Im Morgengrauen eilte Maria Senner mit hastigen Schritten über ihren Hof. Es war kalt in den Bergen zu dieser frühen Tageszeit, sehr kalt sogar.
Die alte Frau zog ihren flauschigen Bademantel enger um ihren knochigen Körper und versuchte, nicht allzu schadenfroh zu grinsen.
Der Bademantel war natürlich aus der Dorfschneiderei vom alten Friedrich. Sie konnte ihn nicht leiden - er war immer so unerträglich gut gelaunt - aber seine Kleidung war ausgesprochen hochwertig. Viel besser als das neumodische Zeug aus den großen Städten, fand Maria Senner, obwohl sie Seetal noch nie verlassen, geschweige denn woanders Klamotten gekauft hatte.
Und trotzdem wusste sie ganz sicher, dass der Stoff aus Seetal weicher und der Preis besser war.
Mit einem energischen Klopfen verharrte sie ungeduldig vor der Tür ihrer Nachbarin Ilke. Die beiden verband eine langjährige Freundschaft und das tägliche Tratschen über den Gartenzaun. Tatsächlich waren die beiden Frauen so gut befreundet, dass sie keine Gelegenheit verstreichen ließen, über den jeweils anderen zu lästern und die Gerüchteküche von Seetal brodeln zu lassen.
Die Holztür (welche nicht halb so schön war wie ihre eigene) wurde mit einem Knarren (welches nicht halb so angenehm klang wie das ihrer Tür) geöffnet und das plumpe Gesicht von Ilke erschien.
Sie war dick geworden, fand Maria und musste ein bösartiges Grinsen unterdrücken. Die Pralinen, die ihr heimlicher Liebhaber - nämlich der immer gut gelaunte Friedrich aus der Schneiderei - ihr ständig schenkte, taten ihr nicht gut. Maria war selbstverständlich bestens informiert über die Beziehung der beiden, da Ilke dauernd damit prahlen musste.
"Maria, du meine Güte!", sagte Ilke überrascht und strich sich peinlich berührt eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war ebenfalls weit über 50, sie musste ihre Haare heimlich mit einem der künstlichen Wundermittel aus den großen Städten färben, dessen war sich Maria sicher. Neidisch dachte sie an ihre eigenen ergrauten Haare, die einst auch so schön blond gewesen waren.
"Ilke", fing sie mit verschwörerischer Stimme an und beugte sich in ihrem Bademantel vor. "Du errätst nie, wer gestern Abend an meine Tür geklopft hat!"
Maria Senner hatte beschlossen, keine Zeit zu vergeuden. Ihr geliebtes Seetal musste informiert werden und das war allein ihre Aufgabe.
"Ja, du meine Güte, wer denn?", wollte Ilke aufgeregt wissen und in ihr dickes Gesicht wurde ganz rot vor Neugier.
Genüsslich ließ Maria Senner sich etwas Zeit mit ihrer Antwort. Sie fand den Gedanken, Ilke etwas voraus zu sein, ganz fabelhaft. Jeder sollte wissen, dass sie es gewesen war, die das Mädchen in ihr Haus gebeten hatte. Sie hatte ihr in der Stunde größter Not gütig wie sie war ein sicheres Dach über dem Kopf geboten und keine Mühe gescheut, der Reisenden zu helfen.
Das musste belohnt werden, fand Maria Senner.
"Ella Bielefeld!", erbarmte sie sich schließlich. Maria Senner konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken und musste der Versuchung widerstehen, nicht ihre hängende Brust stolz hervor zu strecken.
"Du meine Güte!", rief Ilke wieder und riss ihre kleinen Schweinsäuglein neidisch auf. "Sag, ist das wahr?"
"Natürlich!", brüstete sich Maria und konnte ein gewisses Maß an Empörung nicht unterdrücken. Glaubte das närrische Weib vor ihr etwa, sie würde Lügenmärchen verbreiten? Aber Maria Senner sah es ihr nach. Ilke war so gewöhnlich, so einfältig. Wer konnte es ihr verdenken, dass ihr schläfriger Verstand nicht so schnell arbeitete und die grandiose Neuigkeit nicht so rasch registrierte?
"Kann ich sie sehen?", wollte Ilke mit hechelndem Atem wissen und hatte bereits ihren dicken, in hässliche Pantoffen gehüllten Fuß über die Schwelle gesetzt, doch Maria legte ihr mit festem Druck eine Hand auf die Schulter und schob sie zurück.
"Aber, aber", sagte sie mahnend mit einem Kopfschütteln. "Das Mädchen ist doch kein Tier! Nein, Ilke, du musst dich noch etwas gedulden. Das Dorf muss davon erfahren." Triumphierend verschränkte Maria Senner ihre dünnen Arme, als Ilke ein enttäuschtes Gesicht machte.
Es lag ganz allein in ihrer Hand und das war ein wunderbares, unbezahlbares Gefühl.
"Das kann ich gerne übernehmen!", meinte Ilke eifrig. "Nein, das kriege ich schon alleine hin", lehnte Maria konsequent ab. Sie würde nicht zulassen, dass ihre dumme Freundin ihre Lorbeeren einheimste, nein. Das war ihr Erfolg, ganz allein ihrer.
Ein warmes Gefühl der Befriedigung breitete sich in Maria Senner aus, als Ilke ihr ohne ein weiteres Wort wütend die Tür vor der Nase zuschlug.
Nur wenige Meter weiter wachte nichts ahnend Ella Bielefeld auf. Trotz des billigen Lattenrosts und der kratzigen Bettwäsche hatte sie gut geschlafen. Nachdenklich fing sie an, sich umzuziehen und sich ihr blondes, kurzes Haar zu kämmen.
Ihre Haare hatten sich nicht verändert, sie waren noch genau wie vor einem Jahr.
Doch innerlich hatte der Sturm ihren kompletten Charakter aufwirbeln lassen.
Amelies Sturm.
Ella war nun mutiger und risikobereiter, sie hatte gelernt, bis an ihre Grenzen zu gehen und zu kämpfen. Nur um dann schließlich doch zu verlieren.
Amelie zu verlieren.
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The After Storm
Teen FictionEin Jahr ist es her, seit Unaussprechliches in Seetal in Österreich geschehen ist. Ein Jahr nach dem Sturm, der ihre ganze Welt durcheinander gewirbelt hat, kehrt Ella zurück. Der Ort, an dem sie für kurze Zeit glücklich sein durfte. Nachdem Ella de...