Before

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Amelie P. o. V.

Nach der Einführungslesung schlenderten Ella und ich langsam hinter den anderen aus dem Saal. Als wir uns draußen im Park auf einer Bank niederließen, beobachtete ich Ella von der Seite.

Sie war recht hübsch, auf eine ganz natürliche Art. Ihr goldblondes Haar reichte ihr nicht mal bis zu den Schultern und in ihren hellbraunen Augen lag ein wachsamer Blick.

Ich hatte mich nicht zu ihr gesetzt, weil ich sie attraktiv fand.

Nein.

Mir war sofort aufgefallen, dass sie anders war, anders als alle anderen. Ihre gesamte Erscheinung strahlte etwas besonders, etwas außergewöhnliches aus, das mich sofort und auf eine unwiderstehliche Art angezogen hatte.

Ella passte nicht hinein in diesen Saal voll besserwisserischen und begeisterten Germanistikstudenten. Genau wie ich.

"Und was machst du so, wenn du nicht gerade unschuldige deutsche Touristen mit steirischem Dialekt veräppelst?", wollte sie grinsend wissen. Mit dem Zeigefinger rückte sie ihre transparente Brille mit den runden Gläsern zurecht, die ihr bis auf die Nasenspitze gerutscht war.

Ich tat so, als müsste ich kurz überlegen: "Dann führe ich ganz gerne ahnungslose Touristen in in die Irre!"

Ihr Lachen war sehr laut und angenehm. Ella warf dabei ihren Kopf zurück, sodass ihr goldenes Haar umher flog. Sie lachte tatsächlich so laut, dass sich einige Spaziergänger verwundert umdrehten.

Ihr Lachen bestätigte mir den ersten Eindruck, den ich von ihr gehabt hatte: Ella war nicht so schüchtern, wie sie wirkte. In Wahrheit war sie viel bunter und verrückter als es zunächst für Fremde schien, dessen war ich mir sicher.

Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich durch ihr Haar, ein belustigtes Lächeln auf den fein geschwungenen Lippen. "Nein, ernsthaft, Amelie - was machst du so in deiner Freizeit?", wiederholte sie glucksend.

Vage grinsend antwortete ich: "Ich arbeite in einem Cafè, als Kellnerin. Ganz in der Nähe vom Grazer Uhrturm."

Ella machte ein verwirrtes Gesicht. "Was ist das noch mal?", fragte sie nach einem kurzen Moment des Zögerns. Entsetzt riss ich die Augen auf. "Bitte?", rief ich gespielt empört und musste über den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht lachen. "Sag bloß, du warst noch nie beim Grazer Uhrturm?"

Mit gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf.

"Aber Ella, das ist das Wahrzeichen von Graz!", gab ich grinsend zurück. Sie zuckte nur hilflos mit den Schultern und murmelte entschuldigend: "Ich bin aber erst seit Freitag hier . . ."

Plötzlich sah sie ganz traurig aus, sodass ich nicht anders konnte, als aufmunternd zu sagen: "Das müssen wir ändern. Keine Widerrede! Wir gehen zusammen zum Grazer Uhrenturm. Wann hast du Zeit?" Spaßeshalber sah ich auf eine imaginäre Armbanduhr.

Sofort war ihr wunderschönes Lächeln wieder da. "Abgemacht", stimmte sie warmherzig zu.

"Und was ist mit dir? Warum studierst du Germanistik?", wollte ich wissen und kniff geblendet von der Nachmittagssonne die Augen zusammen. Ella senkte verwirrt den Blick, als wüsste sie nicht so recht, was sie auf meine Frage antworten sollte.

"Ich mag Literatur, weißt du", erzählte sie vorsichtig, als befürchtete sie, ich würde ihr nicht glauben. "Und ich schreibe gerne."

"Und was machst du dann in einem Germanistikkurs?", hakte ich interessiert nach und schlug die Beine übereinander. "Was willst du mit deinem Studium später anfangen?"

Ihr stieg die Röte ins Gesicht: "Ich, also, ähm, ich werde in einem Verlag arbeiten." Ihr Stottern verriet mir so einiges über sie und ihren Charakter.

"Wirst", stellte ich prüfend fest. "Du hast gesagt du wirst, nicht willst." Verlegen senkte sie den Kopf. "Warum studierst du denn Germanistik?", fragte sie schließlich mit dünner Stimme.

Ich zog schwach lächelnd die Augenbrauen zusammen. Sollte ich lügen? Oder die Wahrheit sagen? "Ich studiere Germanistik, weil ich gerne lese", sagte ich dann und knetete nervös meine Finger im Schoß.

Die erste Lüge.

So viele weitere würden folgen.

Ich war der festen Überzeugung, dass das schlechte Gewissen mir ins Gesicht geschrieben sein müsste, doch Ella bemerkte nichts. Interessiert riss sie den Mund ganz leicht auf. "Oh, wirklich?", fragte sie nach, erfüllt von Begeisterung. "Was liest du denn so?"

Zumindest jetzt konnte ich nun ehrlich erwidern: "Alles mögliche! Am liebsten mag ich Fantasy."

Ja. Da konnte man sich so schön Sachen ausdenken. Lügen. Alles ausschmücken, alles schönreden. Lügen. Lügen. Lügen.

Passte ja ganz fabelhaft zu mir.

Ella nickte kräftig. Sie schien nun vollkommen in der Unterhaltung aufzugehen, aus sich rauszukommen. In ihren hellbraunen, großen Augen entdeckte ich jetzt ein Funkeln, ein frisch entfachtes Feuer der Leidenschaft, als sie aufgeregt und mit geröteten Wangen wissen wollte: "Fantasy, ja? Was sind so deine Lieblingsbücher?"

Es folgte ein zwanzigminütiges Gespräch über die unterschiedlichsten Romane mit Fabelwesen und die besten Helden und die phantasievollsten Welten.

"Oh jaah", rief Ella begeistert und bemühte sich, nicht allzu schwärmend zu klingen. "Der Hobbit ist wirklich wunderbar! Ich liebe Bilbo und die Zwerge und Gandalf, all die Abenteuer, die sie erleben!" Irgendetwas sagte mir, dass Ella Bielefeld lieber über Heldentaten las, als selber etwas zu riskieren.

"Hast du schon mal eins erlebt? Ein Abenteuer, meine ich?", fragte ich schmunzelnd. Sie sah überrascht hoch. "Was? Ich? Oh, nein. Nicht wirklich", gab sie verwirrt zurück. Ein nachdenklicher Ausdruck hatte sich auf ihr Gesicht geschlichen und für eine Weile schwiegen wir.

Der grüne Park war voll mit Menschen und trotzdem waren wir nur zu zweit.

"Und du kommst aus Deutschland?", vergewisserte ich mich, um sie wieder zum Sprechen zu bringen. "Hamburg, ja", bestätigte sie und schluckte schwer. "Lebst du in Graz?", fragte sie dann.

Die zweite Lüge.

Es war so falsch, so hinterlistig. Doch es tat mir gut. Ablenkung war genau das, was ich brauchte. Schon früher hatte ich es geliebt, in andere Rollen zu schlüpfen. Als kleines Kind hatte ich mich oft verkleidet und war für wenige Stunden jemand anderes geworden. Was für ein tolles Gefühl, sich selbst neu erfinden zu können!

"Ja", antwortete ich vage. Nun, das war nicht gelogen. Aber es entsprach auch nicht der Wahrheit.

Dann, weil mir die Stille unangenehm war und ich das Bedürfnis nach einem Themenwechsel verspürte, hängte ich noch rasch ein Angebot hinten ran: "Wenn du willst, nehme ich dich mal mit. Auf ein Abenteuer, meine ich."

Das Lächeln, was sie mir schenkte, war unglaublich warm und dankbar.

"Ich bin mir sicher, dass man mit dir jede Menge aufregende Abenteuer erleben kann, Amelie", sagte sie beinahe liebevoll.

The After StormWo Geschichten leben. Entdecke jetzt