Ella holte noch einmal tief Luft, bevor sie die zitternde blasse Hand zu einer Faust ballte und an der abgescharbten Holztür klopfte. Das Klopfen war leise und klang im Rauschen der Bäume unbedeutend, wie eigentlich alles, was Ella tat.
Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich etwas regte, abgesehen von den Blättern im Wind und den Wellen, die in einem regelmäßigen Rhythmus sanft an das Ufer des Sees schwappten. Es war die Ruhe vor dem Sturm - dem zweiten Sturm, wohlgemerkt. Amelies Sturm hatte die Menschen in Seetal aufgerüttelt und verschreckt. Einige böse Zungen würden sogar so weit gehen, dass es die Menschen in Seetal ein kleines bisschen verändert hatte. Die junge Frau überlegte, ob sie vielleicht noch einmal klopfen sollte und hoffte beinahe, dass niemand zu Hause war, als sich die Tür öffnete und das Gesicht eines alten Mannes erschien.
Hörbar atmete Ella aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie bis zu diesem Punkt die Luft angehalten hatte. Obwohl sie bewusst die kleine Hütte nur wenige Meter vom See angesteuert hatte, konnte sie ihre Verwunderung nur schlecht verbergen. Über ein Jahr war vergangen, sie hatte nicht einmal wissen können, ob er noch lebte oder ob er Seetal nach den Ereignissen des letzten Herbst verlassen hatte.
Sie hatte es nicht wissen können, hatte nur gehofft, gebetet, gezittert, gewartet. Wer hätte es ihm verübeln können, wenn er das Weite gesucht hätte? Doch hier stand er, direkt vor ihr, hatte sich kaum verändert. Alfred Dorber hatte ein faltiges, von Narben gezeichnetes Gesicht. Er war Fischer von Beruf, man sah es ihm - und vor allem seinen Händen - an. Er war einer der wenigen Menschen in Seetal, die aufrichtig gut und uneigennützig und gutmütig waren. Einer der Gründe, warum Ella ihn aufgesucht hatte.
Alfred Dorber war von Grund auf eine gute Seele - und damit auch fast die einzige in Seetal, wo das Geschehen von Vorurteilen und Gerüchten bestimmt wurde, wo jeder nur auf den nächsten Klatsch wartete, um die Zeit zwischen Frühstück und Mittag zu überbrücken. Einen kleinen Skandal, den man zwischen Mittag und Abendbrot auswerten konnte, um den Tag rumzukriegen und ein paar Gerüchte - die man im Notfall eben selbst erfinden musste - um am Abend etwas in der Dorfkneipe zu bereden zu haben. Alfred Dorber war anders.
Das zeigte sich ebenfalls dadurch, dass er Ella nicht verjagte oder beschimpfte, sondern sie einfach nur verwundert ansah. Ella wagte jedoch nicht, etwas zu sagen, und stand nur zitternd vor ihm. Sie wusste auch gar nicht, was sie hätte sagen sollen, selbst wenn sie gewollt hätte. Schließlich trat der alte Mann zur Seite und bat Ella mit einer ruppigen Bewegung, einzutreten. Sie folgte ihm in seine kleine Küche. Wortlos bereitete er ihr einen Tee zu. Ella nahm zögernd am Küchentisch Platz und beobachtete den alten Mann, wie er jeden seiner Schritte ruhig und besonnen ausführte. Das löste etwas in ihr aus und sie wurde von einer Welle des Schmerzes erfasst, bis sie merkte, dass Alfred Dorber sie stark an Amelie erinnerte. Sie hatten das gleiche unvoreingenommene Wesen. Ihr Onkel hatte sie gut erzogen. In der Tat, Alfred Dorber hatte seiner Nichte viel mit auf den Weg gegeben.
Erst als er die Tasse ruckartig vor Ella abstellte, merkte sie, dass sich in ihm doch eine gewaltige Wut und viele Fragen angesammelt hatten. Beschämt stellte Ella fest, dass sie kaum daran gedacht hatte, dass auch er vor einem Jahr Amelie verloren hatte. "Ich möchte zur Hütte", brachte Ella schließlich mit schwankender Stimme hervor, als sie den Mut gefunden hatte, ihr Anliegen zur Sprache zu bringen. Alfred Dorber neigte nur stumm seinen Kopf leicht nach vorne, doch aus seinen Augen sprach nun die reine Verwunderung.
"Können Sie mir helfen?", fragte Ella. Wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass es nichts half, um den heißen Brei herumzureden. Wenn man gerade heraus sein Anliegen hervorbrachte, kam man schneller zum Ziel.
"Warum?", erwiderte der alte Fischer, nachdem einige Minuten verstrichen waren und Ella die Hoffnung bereits fast aufgegeben hatte. Ella zitterte immer noch, als sie kaum hörbar ausatmete und dabei leise wisperte: "Weil ich sie vermisse." Auch wenn das nun wirklich keine befriedigende Antwort war, keine plausible Erklärung für ihr Auftauchen und nur erneut bewies, dass ihre Entscheidung auf emotionaler Basis von Gefühlen fern von jeglicher Logik und Verstand getroffen war, nickte Alfred Dorber ruppig. "Trink deinen Tee aus", forderte er sie auf. "Wir fahren jetzt gleich."
Trotz der bedrückenden Atmosphäre konnte Ella sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre erfrischende und manchmal überrumpelnde Spontanität hatte Amelie ganz klar von ihrem Onkel. Die Fahrt zur Hütte lief im gegenseitigen Einverständnis ab, zusammen zu schweigen. Das Wasser des Sees war nun nicht mehr so still wie vorher, hohe Wellen schlugen gegen das Boot und der Bergwind pfiff Ella in den Ohren. Es schien gerade so, als wollte eine höhere Macht nicht, dass sie den See überquerten. Ella bezweifelte jedoch stark, dass die wütenden Seetaler im Dorf zu so etwas in der Lage waren. Egal wer oder was nun an dem sich plötzlich änderndem Wetter Schuld war, in wenigen Minuten stand Ella trotzdem wieder auf festen Füßen am anderen Ufer. Auch wenn es nun viel kälter war als in Alfred Dorbers Küche, zitterte sie nun gar nicht mehr und sah ruhig zu, wie Amelies Onkel zurückruderte.
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The After Storm
Teen FictionEin Jahr ist es her, seit Unaussprechliches in Seetal in Österreich geschehen ist. Ein Jahr nach dem Sturm, der ihre ganze Welt durcheinander gewirbelt hat, kehrt Ella zurück. Der Ort, an dem sie für kurze Zeit glücklich sein durfte. Nachdem Ella de...