2. Der Brief

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Es war Aine, die Hestia am nächsten Morgen wecken musste. Das junge Mädchen hatte sich wie eine Katze auf der breiten Fensterbank in der grünen Wolldecke zusammengerollt und tief und fest geschlafen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hestia realisierte, dass sie ja heute Geburtstag hatte. Sofort nach dieser Erkenntnis war die Müdigkeit verschwunden und sie rannte nach unten ins Wohnzimmer, wo sie natürlich ihre Eltern erwartete. Als sie in das riesige Zimmer gestürmt kam, war das erste, das ihr auffiel, das etwas fehlte oder besser gesagt jemand.

"Wo ist Dad?", fragte Hestia ihre Mutter leicht verunsichert. Die großgewachsene Frau mit den schwarzen Haaren und markanten Gesichtszügen versuchte ein Lächeln.
"Er musste arbeiten, es tut ihm wirklich leid.", meinte sie und beugte sich herab, um ihre Tochter zu umarmen. Sofort roch das kleine Mädchen, dass sie sehr viel des teuren Parfums aus London trug- das bedeutete, dass sie heute Besuch bekommen würden.

"Was ist denn passiert?", fragte Hestia, ihre Unterlippe bebte leicht, sie versuchte es zu unterdrücken. Sie hatte geglaubt, dass heute, der Tag an dem sie ihren Brief bekam, auch für ihn ein besonderer seinen würde- sie hatte gehofft, dass er wenigstens einmal stolz sein würde, sie fest in den Arm nahm und lächelte- nicht das Lächeln, dass er aufsetzte, wenn wieder mal ein hohes Tier aus dem Ministerium zum Dinner vorbeikam, sonder ein ehrliches, glückliches...

"Tut mir leid, du bist zu jung dafür.", meinte Mrs. Jones und erst jetzt fielen Hestia die dunklen Ringe unter ihren Augen auf, die sie versucht hatte mit jede Menge Schminke zu überdecken.
"Mom..."
"Keine Wiederrede!" Innerhalb von Sekunden war der verletzliche, müde Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwunden und sie sah wieder aus wie eine unnahbare Lady. Hestia senkte den Kopf und sagte nichts mehr. Ihre Mutter drehte sich um und ging hinüber zum Kamin, auf dessen Sims ein kleines Päckchen lag. Die großgewachsene Hexe setzte sich auf eines der Sofas und lud ihre Tochter ein, sich neben sie auf das elegante Polster zu setzten.

Bevor Hestia jedoch erfahren würde, was sich in der geheimnisvollen Schachtel befand, wurde ihr von ihrer Mutter der Brief überreicht.

An: Miss Hestia Jones
Das Turmzimmer
Jones' Anwesen
Nähe New Ross
Wexford

Mit vor Aufregung zitternden Händen brach Hestia das rote Siegel Hogwarts und zog vorsichtig das Pergament aus dem Umschlag.

Sehr geehrte Miss Jones,

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am 01. September. Wir erwarten Ihre Eule spätestens am 31. Juli.

Mit freundlichen Grüßen

Minerva McGonagall Stellvertretende Schulleiterin

Hestias Herz machte einen riesigen Sprung, sie war tatsächlich eine Hexe. Sie fragte sich, ob jeder in ihrem Alter so unsicher gewesen war, was das anbelangte. Natürlich hatten sich auch bei ihr Zeichen der Magie gezeigt, allerdings nicht so wie bei Mrs O'Maddens Sohn Brady, von dem sie jedes Mal, wenn sie zum Tee vorbeikam, in den höchsten Tönen schwärmte.
Hestia hatte nicht gewusst, dass man ‚Er hat all das Porzellan platzen lassen!' wie ein Kompliment klingen lassen konnte.
Mrs. Jones hatte das natürlich nicht gepasst und da ihre Tochter nicht viele Anzeichen gezeigt hatte, erfand sie ganz einfach welche. Angeblich hatte Hestia also ganz unabsichtlich die Rosen im Garten blau gefärbt und die Katze schweben lassen. Dass Familie Jones keine Katze besaß, war der einfältigen Mrs. O'Madden natürlich nie aufgefallen. Sie hatte nur etwas pikiert genickt und an ihrem Pfefferminztee genippt.

Aber all ihr Zweifel war jetzt verschwunden, sie war magisch und konnte nach Hogwarts und alles. Wahrscheinlich würden heute Nachmittag jede Menge Leute kommen, denen ihre Mutter beweisen wollte, das ihre Tochter, entgegen des angeblichen Getuschels tatsächlich eine Einladung herhalten hatte.

Aber an die Feier heute Nachmittag verschwendete Hestia keinen weiteren Gedanken, da ihr in diesem Moment ihre Mutter das Päckchen überreichte.
Die winzige Schachtel war in seidenähnlichen, grau-schimmernden Stoff eingeschlagen und schrie dem kleinen Mädchen seinen Wert praktisch entgegen.
„Das ist für dich, Schatz.", ergänzte Mrs. Jones unnötigerweise noch.

Behutsam entfernte Hestia die Stoffverpackung und betrachtete das schwarze Ebenholzkästchen, das sich nun offenbarte. Die goldenen Scharniere gaben keinen Ton von sich, als Hestia den Deckel öffnete.

„Es ist Tradition.", meinte ihre Mutter, als Hestia die Kette mit dem goldenen Anhänger in die Hand nahm. „Ich habe auch einen von meiner Mutter bekommen, als ich den Brief erhielt."

Hestia nahm den feinen Anhänger genauer unter die Lupe, das Familien Wappen der Jones' war darauf eingraviert: Suberbia, Honor, Animus. Stolz, Ehre, Mut.

„Warum ist da ein Löwe drauf?", fragte Hestia und gleichzeitig überlegte sie, warum sie nie danach gefragt hatte.
„Nun, wir, also ich, meine Eltern, deren Eltern und deren Eltern, wir sind seit Generationen im Haus Gryffindor, so wie die Blacks in Slytherin, verstehst du?"

Hestia nickte, während sie mit den Fingerspitzen über die Fugen und Kanten des Anhängers fuhr.
„Heißt das, ich komme auch nach Gryffindor?", fragte das Mädchen, das neben ihrer Mutter noch kleiner wirkte nach. Sie fände es nicht schlimm- im Gegenteil. Sie hatte nur Gutes über das rot-goldene Haus gehört.

„Vielleicht kommst du auch nach Slytherin, wie deine Großmutter väterlicherseits, aber das glaube ich kaum, wie gesagt, das ist bisher noch nicht in unserer Familie vorgekommen. Meinte Tante, Apate hat auch einen Slytherin geheiratet und ihr Sohn ist auch nach Gryffindor gekommen.", erzählte Hestias Mutter weiter.

„Was ist mit den anderen Häusern?"
„Mach keine Witze, Schatz, du kommst in keines dieser Häuser.", meinte Mrs. Jones und lächelte belustigt. Hestia nickte. Sie wollte in kein anderes Haus- man hatte ihr erzählt, das Ravenclaws nichts konnten, außer den ganzen Tag zu lesen und jeder, der zu keinem anderen Haus passte nach Hufflepuff gesteckt wurde. Alle die nicht schlau genug, nicht mutig genug oder nicht gerissen genug waren landeten dort.

Hestia schüttelte den Kopf um die deprimierenden Gedanken loszuwerden- es würde schon alles gut werden.
„Hestia, wir bekommen später Besuch- zieh dich an und mach dich fertig. Und vergiss deine Kette nicht!"

Hestia Jones (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt