Als ich am nächsten Morgen beim Frühstück im Speisesaal saß, musste ich mich mit größter Mühe zusammenreißen, um nicht mit meinem Kopf in die Müslischale zu kippen. In der letzten Nacht hatte ich kaum schlafen können, da mich meine Gedanken wachgehalten hatten. Als die Müdigkeit groß genug war, um die Angst zum Schweigen zu bringen, suchten mich Albträume heim. Immer wieder schreckte ich auf und als der Imperide am Morgen an meine Zimmertür klopfte, war ich sowohl bereits wach als auch nassgeschwitzt. Milena warf mir immer wieder besorgte Blicke zu, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich keinen Schlaf finden konnte. Sie selbst war natürlich wieder bestens gelaunt und freute sich auf ihre Übungsstunde. „Kannst du es glauben, dass wir heute Abend schon unser neues Zuhause sehen werden? Ich hoffe, dass wir beide nicht allzu weit entfernt wohnen und uns treffen können", plapperte sie schon wieder vor sich hin. Der Gedanke daran, heute Abend bereits in meinem neuen Zuhause zu sein, sorgte bei mir allerdings nicht für die Freude, wie es das bei Milena tat. Ich schüttelte den Kopf, um Milenas Frage zu beantworten. Am liebsten würde ich auf der Stelle dieses Gebäude verlassen und nach Hause gehen. Nie wieder würde ich mich über die Feldarbeit beklagen, die dort auf mich wartete! Aber ich wusste, dass ich vergeblich verhandelte, denn mein Lebensweg hatte bereits eine andere Richtung eingeschlagen. Resigniert seufzte ich und legte meinen Löffel neben die noch halbvolle Schüssel. „Ich hoffe, du hast einen schönen Tag, Milena. Bis später", verabschiedete ich mich von ihr.
In meinem Zimmer angekommen, ließ ich mich auf mein Bett fallen und entwirrte mit zitternden Fingern meine Haare, die ich zuvor nur kurz zu einem behelfsmäßigen Dutt zusammengefasst hatte. Mein Herz pochte in der Brust und ich musste mich zusammenreißen, um das Frühstück in meinem Magen zu halten. Die Gedanken an den bevorstehenden Abend, die Milena hervorgerufen hatte, machten mich verrückt. Verzweifelt schlug ich die Hände vors Gesicht und schrie kurz darauf verärgert auf. Ich war doch keine Marionette! Und doch musste ich mich hier fügen und konnte nicht ausbrechen. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und warf einen Blick auf die Flammen, die um meine Finger tanzten, ohne dass ich sie bewusst hervorgerufen hatte. Sie bewegten sich schnell, flackerten regelrecht. Und während ich sie beobachtete, spürte ich, wie ich etwas zur Ruhe kam. Das Zittern war bald vollständig verschwunden und mit jeder Minute beruhigten sich auch die Flammen. Mein Blick fiel kurz auf das Armband, das ich von Rylan geschenkt bekommen hatte. Ich löschte das Feuer, nahm das Schmuckstück ab und hielt es in meinen Händen. Es war wirklich wunderschön verarbeitet und die Perle glänzte in verschiedenen Orangetönen. Ich drehte es in meinen Fingern und stockte dann, als ich auf der Rückseite einen winzigen Zettel entdeckte, der in das Garn mit eingewoben war. Neugierig zog ich das Papier heraus und faltete es auf.
Pass auf dich auf. Wir sehen uns.
Die Worte waren so klein geschrieben, dass ich sie gerade noch lesen konnte, und füllten doch den gesamten Zettel aus. Ich las die Worte immer und immer wieder. Der erste Satz war unmissverständlich. Aber was meinte er mit dem zweiten Satz? War dieses Wiedersehen ernst gemeint? Er durfte den Innenring nicht betreten und mein Leben spielte sich ab jetzt in diesem ab. Oder meinte er das Geschriebene nur als Aufmunterung? Ich kannte Rylan zwar gut, wurde daraus aber nicht schlau. Eines zeigte mir dieser Zettel jedoch sicher: Rylan hatte nie damit gerechnet, dass ich die Prüfer überlisten konnte. Er hatte sich damit abgefunden, dass er mich verlieren würde. Er hatte mich bereits aufgegeben. Er hatte nicht an mich geglaubt. Ich hatte das Feuer jahrelang trainiert und es gut unter Kontrolle. Das wusste Rylan. Mit einem Stechen in der Brust steckte ich den Zettel zurück ins Armband und ließ es auf dem Bett liegen, als ich meine Haare zu einem Zopf flocht. Ich konnte mich nicht überwinden, es wieder an meinen Arm zu binden.
Ich hatte es verdient, dass man an mich glaubte.
Meine Motivation während der Übungsstunde mit Henio hielt sich in Grenzen. Es war dasselbe Spiel wie gestern: Ich hielt die Flamme klein und ruhig unter Kontrolle, während mein Lehrer mich über mein gewünschtes Verhalten an den verschiedenen Häusern aufklärte und mir die Geschichte Lapis' erzählte. Wie jedes Kind hatte ich von meiner Mutter Erzählungen darüber gehört, aber Henio kannte jedes Detail. Auch über Sinistra, die Stadt des Grauens, klärte er mich auf. Das war endlich ein Thema, welches mich tatsächlich interessierte. Wir im Außenring fürchteten Sinistra zwar, kannten die Gründe dafür allerdings nicht. Durch Henio erfuhr ich, dass der König von Sinistra nicht allen Imperiden seiner Stadt wohlgesonnen war. Er hatte einen kleinen Kreis aus mächtigen Männern um sich geschart, mit denen er Angriffe auf die anderen Städte plante. Zudem schwor ihm ein Heer von Imperiden die Treue. Alle anderen, Menschen und schwächere Imperiden, hielt er in Sklaverei. Er war bekannt für seine Grausamkeit.
Durch regelmäßige Angriffe auf die anderen neun Städte verbreiteten die Sinistra überall Furcht. Dabei reichte es ihnen nicht, eine Stadt zu schwächen. Ihr Ziel war es, Gefangene zu nehmen und somit ihre Stadt und ihre Macht zu stärken. „Aber wieso gelingt es einer Stadt, sich alleine gegen alle anderen zu stellen? Wieso sind die Sinistra so mächtig?", fragte ich schockiert. Henio seufzte und lehnte sich zurück. „Der König von Sinistra ist sehr stark. Man sagt, er besitze die Kontrolle über alle fünf Elemente. Er allein hat einen mächtigen Schutzwall mithilfe aller Elemente errichtet, sodass es sowohl für die Gefangenen unmöglich ist, die Stadt zu verlassen, als auch für Angreifer, in Sinistra einzudringen." Verwundert blickte ich zu Henio. Ein Imperide, der alle fünf Elemente beherrschte? Davon hatte ich noch nie gehört. Nun konnte ich mir auch denken, wieso wir im Außenring größtenteils in Unwissenheit gelassen wurden. Wenn sich bereits unsere Imperiden so sehr vor den Sinistra fürchteten, dann würde im Außenring, wo es keine Magie gab, Panik ausbrechen, wenn sie von der Macht des Königs von Sinistra erfuhren.
„Zudem entzieht er seiner Partnerin alle Energie. So heißt es zumindest, denn gesehen hat man sie schon lange nicht mehr. Der König von Sinistra nutzt sie und ihre Magie komplett aus, was ihn zum stärksten Imperiden aller zehn Städte macht. Selbstverständlich ist es streng verboten, seine Partnerin derart auszunutzen. Da sich dem König von Sinistra allerdings niemand in den Weg stellen kann, kann er sich seiner und ihrer Macht bedienen."
Erschrocken löschte ich meine Flamme, als sie wild vor meinem Gesicht tanzte. Sie hatte sich aufgebäumt und sich von der Angst genährt, die sich bei mir eingeschlichen hatte, während ich Henios Worten gelauscht hatte. Sie lebte von meinen Gefühlen. Genau das musste ich lernen zu kontrollieren.
Wenn sich die neun Städte nun mit ihrer verstärkten Vertiden-Auswahl und dem Schluss vieler Partnerschaften für einen Krieg gegen Sinistra wappneten – war es dann nicht auch möglich, dass es in diesem Ausnahmezustand zur Ausnutzung der Vertiden kam? Ich zitterte am ganzen Körper, denn ich kannte die Antwort, die niemand aussprechen würde. Henio bemerkte meine Angst und legte in einem Versuch der Beruhigung seine Hand auf meine. „Wir sind nicht wie sie. Du brauchst dich nicht zu fürchten." Seine Worte trugen wenig dazu bei, mir die Angst zu nehmen. Schließlich war er selbst einer der höheren Imperiden und würde mich das glauben lassen, was er wollte. Ich schluckte, nickte ihm aber zu, denn es hatte keinen Sinn, das nun weiter zu diskutieren. Mir selbst aber leistete ich einen Schwur: Ich würde stark sein. Ich würde trainieren und mich von niemandem unterkriegen lassen. Ich würde keine Gefangene sein.
Den Rest der Übungsstunde verbrachte ich weiterhin Henio lauschend, während die Flamme in meiner Hand tanzte. Ich hörte meinem Lehrer kaum zu, sondern konzentrierte mich auf die Kraft, die in meinem Element lag. Die Flamme wärmte mich, schlängelte sich um meine Finger und spielte mit ihnen. Aber vor allem spürte ich im Inneren, dass die Flamme mich drängte. Sie drängte mich, sie frei zu lassen, damit sie sich zu ihrer ganzen Größe entfalten konnte. Die kleine Form als brav tanzende Flamme gefiel ihr nicht. Sie war zu mehr bereit und viel zu mächtig, um in einen so kleinen Käfig gesperrt zu werden. Ich spürte, dass sie auf der Lauer lag, bereit zu einem großen Feuer.
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Die Flamme - Magie des Feuers (Leseprobe)
FantasiIn einer Welt, in der die Magie darüber entscheidet, dass dein größter Feind zu deinem engsten Partner wird, darfst du dich nicht selbst verlieren. Doch wie sollst du ihn bekämpfen, wenn du plötzlich alle seine Gefühle, Sorgen und Ängste spürst? Was...