Kapitel 19

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Hannah's Sicht

Da kniet sie. Auf den hellroten Lippen ein Lächeln,  die weißen Lider über die Augen gelegt, die langen Wimpern auf ihrer rosigen Wange ruhend. Der Kopf ist neben Leas auf dem Kissen gebettet, ihre Hand hält die ihrer Freundin. Vorsichtig und darauf bedacht, die beiden nicht zu wecken, stelle ich das Tablett mit den Keksen und dem Tee auf das Nachtschränkchen. Dann gehe ich hinunter in die Küche.  Markus ist arbeiten, Magda im Kindergarten und die Mädchen schlafen. Es ist so ruhig, dass ich die Uhr ticken höre. Und das Ticken erinnert mich an die Zeit und wie schnell sie vergeht. Und die schnell vergehende Zeit erinnert mich an die letzten zweieinhalb Monate und wie kurz sie mir vorkamen. Das Ticken der Uhr wird von meinen leisen Schluchzern unterbrochen. Ich muss die Lippen aufeinanderpressen, um nicht unter Kontrolle zu geraten. Ich schlinge die Hände um meinen Bauchen, in der Hoffnung, sie könnten meine Schmerzen lindern. Warum meine Tochter?? Als wüsste sie, wie es mir geht, klopft auch noch diese alte Dame ans Küchenfenster und läuft dann zur Tür. Ich weiß, dass sie reinkommen will. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Tränen wegzuwischen, mache den Wasserkocher an und laufe dann zur Haustür, um sie zu öffnen. Als ich sie öffne, blitzen vor mir zwei stahlgraue, kleine, scharfe Augen auf und ich zucke zusammen. Dann reiße ich mich am Riemen und öffne die Tür komplett. "Kommen Sie doch rein."

Zur Antwort erhalte ich ein kurzes Nicken. Ich mustere die Dame dabei, wie sie mit ihren schnellen Schritten in den Flur stapft, Hut und Mantel abstreift und an den Haken hängt. Dann führen ihre Schritte sie in die Küche, wo sie sich auf einen der Stühle setzt. Ich spüre ihren Blick auf mir ruhen, während ich das heiß gekochte Wasser in zwei Tassen fülle und Teebeutel einhänge. Dabei habe ich das Gefühl, dass sie mit ihrem starren Blick und ihren scharfen Augen ein Loch in mich hineinbrennt. Jedoch reiche ich ihr höflich lächelnd die Tasse und setze mich ihr gegenüber. Eine Weile schweigen wir und ich frage mich, ob es überhaupt einen Sinn macht, sie auf etwas unbestimmtes anzusprechen, denn ich ahne, dass man nur auf bestimmtes eine Antwort erhält.

"Hör auf zu weinen.", durchschneidet ihre energische Stimme die Stille. Unbehaglich umklammere ich die wärmende Teetasse. Ein Frösteln durchfährt mich, als ich in meinem Stuhl immer kleiner werde. "Aber,", wimmere ich "Aber ich kann es nicht abstellen. Es überkommt mich." Ich schaue in ihr Gesicht. Letztens war es von Falten und Runzeln nur so übersäht, aber inzwischen wirkt ihre Haut jünger und straffer. Ihre Augen durchbohren die meinen und ich wende den Blick schnell ab und hefte ihn auf die grüne Tischdecke.

"Du musst stark sein. Das lindert ihre Angst.", antwortet die Dame und nimmt ihren ersten Schluck Tee. "Angst?", schnaube ich verächtlich. "Mila hat keine Angst." Wieder richtet sie ihren Blick auf mich und ich werde unruhig. "Sieh mich an.", befiehlt sie. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn ich es nicht tue, also hebe ich langsam meinen Kopf und schiebe eine Strähne hinter mein Ohr. Ihre Augen, die bis eben noch durch und durch grau zu sein schienen, sind nun mit zartem blau vermischt. Ich schlucke, lasse mir aber nichts anmerken. Als die Dame nun weiterredet, hat ihre Stimme etwas weiches. "Natürlich hat Mila Angst. Tief in ihrem Innern. Sie weiß, dass sie stirbt und sie weiß auch, dass es bald geschehen wird. Aber auch sie und vor allem sie hat Angst. Angst um ihre Familie und Angst um ihre beste Freundin. Angst, um die Menschen, die sie liebt.Und Angst vor möglichen Schmerzen bei ihrem Tod. Nun ist sie ein sehr starkes Mädchen und kann all diese Ängste überspielen. Und sie hat den nötigen Lebenswillen, ihrem restlichen Leben Freude zu geben. Und diese Freude musst du teilen. Egal, wie sehr es dich in Wirklichkeit verletzt, aber es schützt dich vor noch mehr Schmerzen, wenn du die Tränen einfach runterschluckst."

Ich nehme den Blick von ihren nun vollkommen zartblauen Augen und hefte ihn auf das Fenster. Draußen läuft lachend ein junges Pärchen vorbei, gefolgt von einer Großfamilie mit einem Hund. Die Sonne glitzert auf den regennassen Straßen und die Wolken reißen auf, um zu zeigen, dass der Himmel wirklich strahlend blau sein kann. So blau wie die Augen der alten Dame. Sie hat Recht. Ich muss aufhören damit. Ich kann nach Mila's Tod schließlich noch genug weinen. Jetzt zählt nur, dass sie ihre letzten Wochen wirklich in Liebe erlebt. Ich greife nach der Hand der Alten. "Danke!", hauche ich und plötzlich muss ich lächeln. Durch ihre warme, feste Hand strömen Liebe, Glück und Optimismus in Massen durch meinen Körper, auf direktem Wege ins Herz.

Dann steht die Dame auf und erhebt sich. Auf einmal scheint sie wieder krummer und älter zu sein als eben, als ich sie ins Haus ließ. "Hoffe das reicht für die nächsten Wochen", grummelt sie sich zu und geht in den Flur zurück, wo sie ihre Jacke und den Hut vom Haken nimmt. Ich begleite sie zur Tür und schaue ihr nach, wie sie durch die Straßen davongeht. Was auch immer sie durch ihre Hände in meine geschickt hat, es muss wahre Magie gewesen sein.

Hei, meine Leser! ;))
Danke, dass ihr dieses Buch lest. :-* Ich hoffe natürlich immer auf Rückmeldungen, denn die machen mich bestimmt genauso glücklich wie die Magie der alten Frau! ♥
Also, kommentiert! :D

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