Mila's Sicht
Wenn man mich vor einem Jahr nach dem Ende meiner Geschichte gefragt hätte, hätte ich wohl kaum gesagt, dass ich glücklich sein würde. Aber das bin ich. Rundum. Da unten müssen sie sagen, dass ich zu früh gegangen bin, dass mein Leben zu kurz war, doch allesamt irren sie sich. Mein Leben hätte besser nicht sein können und ich bin fest davon überzeugt, dass es am besten war, dass ich gestorben bin. Denn es kommt doch nicht darauf an, wieviele Atemzüge man dem Leben gibt, sondern wieviel Leben einem Atemzug. Und jeder meiner Atemzüge war voll davon. Ich bereue nichts. Sie werden es schaffen. Irgendwann bin ich nur noch eine ferne Erinnerung. Irgendwann wird es meiner Mutter nicht mehr täglich im Herzen wehtun, dass sie ihre Tochter verlieren musste. Sie hat Magda und ich bin sicher, dass sie irgendwann wieder ein Kind bekommen wird. Irgendwann wird Lea eine andere Freundin finden. Eines Tages werde ich nur noch ein Bild auf dem Grabstein sein, eine Erinnerung an eine schöne, längst vergangene Zeit. Sie werden mich nicht mehr mit dem Tod in Verbindung setzen, sondern mit dem Leben, dass sie fortführen müssen. Ich bin eine Stimme von vielen auf unserer CD. Und so soll es sein. Nicht anders. Es ist gut so, wie es ist. Ich musste gehen, aber sie sollen glücklich sein. Sie müssen weiterleben. Das ist das Schicksal, kein Zufall. Ich habe abgeschlossen. Und das werden auch sie irgendwann tun.
Lea's Sicht
Ich stelle die Erdbeerbowle auf den Tisch und setze mich. Die Sonne scheint auf uns herab, heute ist der erste Juli. Heute feiern wir. Mit 'wir' meine ich meine Mutter, Hannah, Markus, Magda und Sophia. Ich wollte auch Josephine einladen, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Mittlerweile glaube ich, sie war nur für Mila hier, nicht für uns. Wir feiern, weil wir es geschafft haben, weil wir die schlimmste Zeit hinter uns haben. Heute trinken wir auf uns, auf das Leben. Seit Mila's Tod ist zwar eine große Lücke in unser Leben getreten, aber es geht immer weiter. Wir lassen sie hinter uns, so wie sie uns hinter sich gelassen hat. Ich glaube, seit wir den Beutel mit den Briefen in ihrem Kissenbezug gefunden haben, ich glaube, genau da ist uns allen bewusst geworden, dass es Zeit ist, mit Trauern aufzuhören. Die Blätter waren gesprenkelt von Tränen, doch ihre Worte waren edel und tapfer gewählt. Sie ist uns ein Vorbild. Und nicht nur uns. In der Stadt plakatieren sie ihr Bild riesengroß an die Hauswände. "Für ein besseres Leben mit Krebs!", steht darauf. Und sie lacht. Ihre Augen funkeln, ihre Zähne sind strahlend weiß. Obwohl sie tot ist, spendet sie den Kranken Trost und gibt ihnen Freude. Und die CD war ein Riesenerfolg. Bei unserem Benefizkonzert ist so viel Geld rumgekommen, dass sie Mama ein paar tausend geben konnten, mit denen sie den Brandschaden des Cafés beheben konnte. Daher geht es auch ihr entsprechend gut. Und ich habe die Schule gewechselt und besuche nun eine Gesamtschule, wo ich gewissermaßen eine kleine Berühmtheit bin. Zwar bewundern sie hauptsächlich Mila, die anscheinend der ganzen Stadt bekannt ist, aber ich war ihre beste Freundin. Und darauf bin ich stolz.
"Was lächelst du so in dich hinein?", fragt Markus, als er Sekt verteilt. Ich will zur Antwort ansetzen, als mir auffällt, dass er nicht mich, sondern Hannah meint, deren Augen lachen wie seit langem nicht mehr. Als er ihr einschütten will, hält sie eine Hand übers Glas. "Für mich erst mal kein Alkohol mehr." Ihr Lächeln wird breiter, während sie ein Bildchen aus ihrer Bluse zieht. "Wie?", fragt Markus. Hannah hält ihm das Bild hin und ich beobachte, wie seine Miene von Skepsis, über Schock, zu vollkommener Freude wandert. Neugierig beuge ich mich vor. Das Bild ist dunkel, ein kleiner Strahl ist zu sehen. Dann etwas Ovales, vier verschwommene Striche. Aber meine Augen sind genug, um die Ultraschallaufnahme zu erkennen. "Du bist schwanger!", rufe ich atemlos, dann springe ich auf, um Hannah zu umarmen. "Ja!" Lachend wischt sie sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Auch Markus hat angefangen zu weinen. "Glückwunsch!", sagt meine Mutter und fällt Hannah ebenfalls um den Hals. Sophia hüpft aufgeregt auf und ab und Magda rennt lachend über die Wiese. Ich laufe auf sie zu, greife nach ihrer kleinen Hand und renne mit. Die Sorgen sind vorbei. Meine Selbstmordgedanken sind vorbei, ich habe es geschafft, ganz ohne Therapie. Mein Leben ist wunderbar. Auch wenn es ein Touch Neuanfang ist. Aber das tun wir ja alle. Neu anfangen. Aus dem Radio tönt One by One von unserem Chor und ich tanze mit Magda durch den Rasensprenger. Manchmal muss man sein rationales Denken abschalten und die Welt aus den Augen einer Vierjährigen sehen.
Gerlinde's Sicht
Ich beobachte sie, wie sie auf den Wolken sitzt, das Gesicht in die Sonne gereckt. Ich werde nicht zu ihr gehen, nein, denn ich beneide sie, Mila. Warum ist sie so perfekt? Sie und Pegah, warum? Warum wehren sie sich gegen das Vergessen, warum wollen sie sich jeden Tag an ihre Familie erinnern? Es ist nicht fair, es darf nicht sein. Aber so ist es. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich es ändern? All die Tage, die ich in diesem Himmelbett verbracht habe, um nicht an meine Eltern und ihre Trauer zu denken, um meinen weinenden Mann aus meinen Gedanken zu verdrängen? Ich weiß es nicht. Ich konnte damals nicht anders. Aber warum können sie das? So sind sie niemals einsam, sie sind immer bei ihren Freunden und Familien. Ich bin das nicht. Vielleicht sollte ich mich mit den beiden anfreunden, aber ich kann nicht. Es würde mich runterziehen. Sie sind zu stark. Und ich zu schwach. Ich schlinge meine Arme fester um Elsa, mein Baby und wende mich ab. Zeit, mich auf meine Zeit als Schutzengel vorzubereiten.
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Das war das letzte Kapitel meiner Geschichte, Leute. ♥ Verzeiht mir, dass es so lange gedauert hat, aber ich musste das Ende mehrmals bedenken, und genau so und nicht anders bin ich vollkommen zufrieden damit. ♥
Ich muss mich wohl dafür bedanken, dass ihr mir als Leser stets treu geblieben seit, dass ihr immer kommentiert habt, was mich immer total bescheuert hat grinsen lassen. Ihr seid "Leukämie - mein Leben danach", denn ihr wart von Anfang an dabei, habt mir jeden Schritt gleichgetan. Ohne eure Unterstützung hätte ich das vermutlich nie zuende gebracht. An dieser Stelle noch mal 10.000 Küsse und ein dickes DANKESCHÖN meinerseits. ♥♥♥ Ihr seid die besten!
So, da mir bewusst ist, dass ihr vielleicht traurig oder geschockt seid, dass es hier zuende geht, gebe ich euch die Chance auf ein Bonus-Kapitel eurer Wahl. Also überlegt euch gut, womit dieses Buch endgültig abgeschlossen werden soll und schreibt mir einen Kommi mit dem Thema für das Bonus-Kapitel. Vielleicht schaffe ich es, alles in eins zu packen, vielleicht picke ich mir auch ein paar raus. Also begründet gut! ♥
- Alitschi
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Leukämie-mein Leben danach
SpiritualWas passiert nach der Diagnose, nach dem sicheren Todesurteil? Wie weit geht ein Mensch in seinen letzten Wochen. Mila, 14 Jahre alt leidet an Leukämie. Was sie nicht weiß-der Arzt gibt ihr nur noch 3 Monate. Mit dem Gewissen, all ihre Liebsten sehr...