Kennenlernen

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Anna:

Nichts. Ich sah überhaupt gar nichts. "Oh mist. Warum vergesse ich eigentlich immer meine Perücke auszuziehen? Jetzt kann ich sie heute noch waschen bevor ich zur schule gehe. Na toll. Mein erster Tag hier fängt ja schon mal gut an.", quälend langsam schiebe ich mich aus dem Bett. Ich hasste aufstehen. Ich könnte schwören, es gibt nichts Schlimmeres. Außer meinen Krebs vielleicht. Nein eigentlich ziemlich sicher. Ich wollte nicht schon wieder daran denken. "Na los geht's. Ich pack das", langsam fing mein Herz an zu schlagen. Ja ich war wirklich aufgeregt in die Schule zu gehen. Gibt's ja nicht. 

Schnell zog ich mir einen Jogginganzug an. Ich glaube hier braucht man nichts schickes. Darf ich überhaupt meine eigenen Klamotten anziehen? Oder muss die Krankenhaus-kluft sein? Mir egal. Ich darf das. Ich kicherte.

Immer noch kichernd darüber, was ich für ein Rowdy geworden war, ging ich in mein Bad; da musste ich echt erst Krebs haben um ein eigenes Bad zu bekommen; und wusch meine Perücke im Waschbecken. Haare waschen war noch nie so einfach gewesen. Ich Witzbold. Schnell zog ich  die Perücke an. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sie saß gut; keiner würde bemerken, dass es nicht meine echten Haare waren. Ich konnte mich immer noch nicht an den 'nackten' Anblick gewöhnen, also musste es auch sonst niemand wissen.

"Brauche ich eigentlich was für die Schule?", fragte ich mich selbst. Ich hatte sowieso nichts dabei, also konnte ich ja gar nichts mitnehmen. Dann wäre das ja geklärt. Schuhe an und los ging es. 

Der Klassenraum war recht leicht zu finden. Meine Knie zitterten als ich davor stand. Ich war richtig nervös. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich viel zu früh da war. Der Raum war noch zugeschlossen. Ich lehnte mich gegen die Wand und ließ mich an ihr herunter gleiten. Da saß ich nun, eine viertel Stunde zu früh und ganz alleine. Ein Glück hatte ich ein paar gute Spiele auf dem Handy. Subway Surfers war gerade mein Favorit.

Leo:

"Schnell Leo, wir haben noch eine Minute bis der Unterricht beginnt. Du kannst deine Prothese nach der Schule anziehen", rief Jonas mir zu, als er mit seinem Rollstuhl an mir vorbei in Richtung Klassenzimmer raste. "Ist ja schon gut. Ich beeil mich", rief ich ihm hinterher und legte meine Prothese zur Seite. Ein Paar geübte Handgriffe und ich saß in meinem Rollstuhl. Mit viel Kraft schob ich ihn so schnell ich konnte an. Aber eigentlich war es egal, ich kam ja sowieso jeden Tag zu spät in den Unterricht. Ich ließ mich ausrollen und schob ganz entspannt weiter

Anna: 

Total in mein Spiel vertieft schrak ich auf als plötzlich jemand neben mir anfing zu reden: "Guten Morgen! Ich heiße Toni. Wer bist du?". Ich schloss mein Spiel und schaute auf. Vor mir stand ein Junge, etwa in meinem Alter. Besser gesagt saß; seine beiden Beine waren von oben bis unten eingegipst, deswegen saß er im Rollstuhl. "Hey Toni, ich bin Anna", gab ich lächelnd zurück. Ich freute mich, schon jetzt einen Freund gefunden zu haben. "Freut mich Anna. Ich habe dich hier noch gar nie gesehen, warum bist du denn hier?", fragte er. Etwas überrumpelt darüber, dass er so direkt war, brauchte ich kurz um zu antworten: "Ich bin auch erst seit gestern da. Ich habe Darmkrebs und muss jetzt eine Weile hier leben, um zu sehen, wie es mit mir weiter geht. Und du? Wie hast du es geschafft dir beide Beine zu brechen?"

Er lachte: "Oh das ist eine ganz lustige Geschichte. Ich wollte mit Opi's Motorrad fahren, und dann kam plötzlich eine Kurve von der ich nichts wusste. Naja die Kurve habe ich also ausgelassen und bin ganz doof hingefallen. Seit dem bin ich hier. Weißt du, hier ist es auch sehr cool. Ich habe viele Freunde. Wir nennen uns Der Club der roten Bänder", er schaute sich um als ob er etwas gehört hatte: "Ach siehst du, hier kommt ja schon einer von ihnen. Das ist Jonas". Er zeigte auf einen Jungen der gerade wie ein Pfeil um die Ecke geschossen kam. Wenn ich nicht so schlecht im schätzen wäre, könnte ich schwören er hatte mit seinem Rollstuhl mindestens 50 km/h drauf. Wie gesagt, ich bin verdammt schlecht im schätzen.

"Hey Toni, wie geht's dir? Oh hey ..? Ich bin Jonas und du?", Jonas stoppte kurz vor mir und hielt mir seine Hand hin. Als ich sie ergriff sagte ich: "Hey Jonas, ich bin Anna! Schön dich kennenzulernen." Erst jetzt bemerkte ich, dass er nur noch ein Bein hatte. Ich konnte nichts dagegen tun, ich musste einfach drauf schauen. "Sieht scharf aus was?", Jonas grinste und zeigte auf sein, nicht vorhandenes, Bein. Beschämt schaute ich weg: "Tut mit Leid. Ich wollte nicht starren. Ich..", "Kein Problem Anna, ich komm damit klar, dass die Leute starren, wenn sie das Bein zum ersten Mal sehen. Ist schon okay. Ich bin ja nicht alleine damit, falls es Toni, das Plappermaul, schon erzählt hat.", er klang überhaupt nicht verletzt, es machte ihm wohl wirklich nichts aus. Bewundernswert wie gut er damit umging. Wenn ich das nur auch könnte.

Jetzt war es auch schon 8 Uhr und der Lehrer kam. Er schloss das kleine Klassenzimmer auf und bat uns herein: "Hallo! Du musst Anna sein. Ich bin Herr Schmidt und dein neuer Lehrer. Setz dich einfach irgendwo hin und wenn du fragen hast, frag mich oder Alex, der ist ganz gut in der Schule. Ach, der ist heute mal wieder nicht da, macht wohl auf krank - im Krankenhaus. Also Leute, lasst uns anfangen."

Ich wartete bis sich Toni und Jonas hingesetzt hatten, sie saßen natürlich zusammen an einem Tisch, und setzte mich dann auf die freie Seite von Toni.

Gerade als Herr Schmidt mit dem Unterricht beginnen wollte, kam noch ein Junge zur Tür herein gestürmt. Auch er saß im Rollstuhl; kann hier denn keiner mehr selbst laufen? "Tut mir Leid Herr Schmidt, ich hatte Probleme mit meinem Bein, und war deswegen spät dran. Oh hey.. Du sitzt auf meinem Platz", sagte der Junge zum Lehrer. Der zweite Satz aber galt mir. Ich rutschte, ohne etwas zu sagen, einen Platz weiter. Ich wollte mir nicht gleich Feinde machen, nur weil ich da saß, wo ich saß. Ich drehte mich zu ihm rum: "Tut mir Leid", ich lächelte schüchtern.

Leo:

Herr Schmidt schloss gerade die Tür, als ich um die Ecke kam. Hätte ich mich mal doch lieber beeilt. Gemütlich fuhr ich zur Tür, kurz davor, tat ich so, als wäre ich gerade her gerast, und riss sie auf. "Tut mir Leid Herr Schmidt, ich hatte Probleme mit meinem Bein, und war deswegen spät dran.", ich fuhr auf meinen Platz zu, doch dort saß schon jemand: "Oh hey.." Mehr bekam ich nicht raus. SIE war es. Was sollte ich nur zu ihr sagen? Bloß nichts falsches, sie soll nicht denken, ich wäre ein Arsch: "Du sitzt auf meinem Platz". Hmm, das war wohl nicht das Beste was ich hätte sagen können, denn sie rutschte einfach weg, ohne etwas zu sagen. Na toll, ich hatte es vermasselt. 

"Tut mir Leid", kam es plötzlich von der Seite. Sie lächelte mich verlegen an. Ihre blauen Augen strahlten, obwohl ihr Gesicht sehr fahl war. Das Lächeln brauchte all ihre Kraft. Umso mehr freute es mich, dass sie es mir schenkte. 

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sprach sie nochmal an, dieses Mal aber richtig.



Veröffentlicht am: 27. August 2016

Club der roten Bänder FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt