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Dienstag, den 7. 6. 2013

Lieber Bruder,

Sie sagen der Schmerz vergeht, aber was sie vergessen ist, dass die Narben bleiben.

Alles geht seinen gewohnten Gang. Ich habe keine Entschuldigung im Unterricht zu fehlen. Wir schreiben Aufsätze mit dem Thema „Wie wir eine geliebte Person verloren haben". Was für ein Zufall...

Niemand wird je erfahren, weshalb du gestorben bist. In dieser letzten Nacht bist du zu mir gekommen, wie früher als ich Angst vor denen hatte, die uns trennen wollten. Du hast dich zu mir aufs Bett gesetzt, hast mich angeschaut, hast gesagt, dass du mich über alles liebst und niemals vergessen wirst.

Dann bist du aufgestanden, aus dem Fenster gestiegen und dann...

In meinen Gedanken bin ich dir gefolgt. Ich wollte es nicht aber irgendwo wusste ich, dass das passieren wird.

Du bist die grosse Strasse entlang geschlendert, hattest Angst, warst aber dazu entschlossen durchzuziehen was du vorhattest. Dann bist du los gerannt. Geradeaus, dann in eine Seitenstrasse abgebogen, den wenigen Betrunkenen, die dort noch sassen ausgewichen und immer weiter gerannt.

Dann standest du plötzlich auf der Brücke. Die Nachtluft traf dich wie ein Kissen im Gesicht. Du bist da gestanden und hast hinunter gestarrt, dahin wo sonst immer ein Fluss fliesst, der aber jetzt ausgetrocknet war. Du bist auf die Mauer gestanden, die das Geländer der Brücke darstellt. Du hast dein Gesicht dem Himmel zugewandt und hast „Scheiss Welt" gerufen. Dann hast du dich fallen gelassen und während dem Fall hast du „Vergiss mich nicht" gemurmelt.

Ich wollte es nicht wahrhaben als die Äbtin gesagt hat, dass du nicht zurückgekommen bist, denn ich wusste in diesem Moment was passiert ist.

Ich werde dich nicht vergessen, wie könnte ich? In dem Moment, in dem dein Körper auf den harten Stein traf und du dir das Genick brachst, den Schädel dreimal brachst und die Augen für immer geschlossen hast, habe ich alles verloren. Du warst meine Familie nachdem unsere Eltern gestorben sind.

Irgendwann werden wir wieder vereint sein, früher oder später.

Weisst du noch, als du gesagt hast, dass das Leben immer da Schluchten aufreisst, wenn man es am wenigsten erwartet?

Jetzt weiss ich was du gemeint hast.

Und du hinterlässt mir nichts als Schmerz

Ruhe in Frieden

xx


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