2. Orychilon

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"Na komm schon, Nazar! Oder bist du zu lahm?", hänselte die blonde Silvawächterin ihre beste Freundin, welche sie gerade durch die Felder jagte.
"Halt die Klappe, Sweta!", fauchte Nazar und sprintete ihrer Freundin so schnell wie möglich hinterher. "Und jetzt bleib sofort stehen und gib mir diesen Brief zurück!"
"Nie im Leben! Was, wenn es sich um einen Liebesbrief handelt?", neckte sie die Braunhaarige jetzt und war drauf und dran, das lederne Röhrchen mit dem schwarzen Siegel zu öffnen.
"Das ist kein Liebesbrief, du Idiot!", schrie sie leicht verlegen und legte nochmal einen Zahn zu.
"Hört endlich auf, wie kleine Kinder zu spielen und lasst unsere Felder in Ruhe!", forderte eine Frau mit einem Korb voller Gewürze über dem Kopf. "Also wirklich!"
"Ach Tantchen, dem Reis wird schon nichts passieren!", lachte Sweta, immer noch mit dem Brief in der Hand, und sprang von einem Weg zwischen den mit Wasser gefüllten Feldern, zum anderen.
"Zum letzten Mal, Aikawa. Gib mir endlich den blöden Brief zurück!"
"Wann hast du mich das letzte Mal beim Nachnamen genannt?", überlegte sie mit einem Grinsen.
"Mann, Sweta!"
Die Turmwächterin des Berg Clans war inzwischen bereits nah genug an der Diebin des Briefes dran und sprang auf sie zu. Beim Aufkommen jedoch verlor Swetlana aufgrund der schmalen Wege das Gleichgewicht und fiel in das Reisfeld, womit auch Nazar den Fall in die Nässe ertragen musste.
"Verdammt, Sweta!", schrie Nazar aufgebracht und riss ihr den klitschnassen Brief aus der Hand.
Lesbar war er auf jeden Fall nicht mehr, das stand fest.

"Ach, das war nur ein Brief an den Sonnenclan...", seufzte die Schuldige für deren momentane Arbeit enttäuscht, als sie eine Reispflanze in den Boden pflanzte.
"Ja, war es. Und wegen dir müssen wir jetzt den Reis neu anbauen. Na schönen Dank auch", gab ihre Gesprächspartnerin genervt von sich und steckte eine weitere Pflanze in die saubere Reihe der grünen Gewächse. "Und obendrauf kann ich den ganzen Text nochmal schreiben!"
"Ist ja schon gut, tut mir leid", entschuldigte sie sich schon zum dritten Mal. "Worum ging es denn im Brief eigentlich?"
Nazar stellte sich vor Anstrengung wegen des Runterbeugens auf und wischte sich den Schweiß an der Stirn ab. Das pralle Sonnenlicht, das ihr ohne Erbarmen entgegen schien, kam vom höchsten Punkt im Himmel herab, was sogleich bedeutete, dass es Mittag war.
"Es ist eine Rückmeldung auf ihre Bedingung von letzter Woche", sagte sie nur und widmete sich wieder dem Feld. "Du weißt es vielleicht schon, aber sie wollen einen bestimmten Stein aus unseren Schwarzen Mienen haben, um irgendetwas daraus zu machen."
"Orychilon... oder?"
"Ganz genau. Sie meinten, sie könnten gute Waffen aus diesem Material herstellen. Waffen, die anscheinend nur von Schmieden des Sonnenclans geschmiedet werden können", erklärte sie die Motive des Gelben Clans.
"Und was war die Reaktion deines Onkels darauf?", fragte Swetlana weiter.
"Er meinte, wir sollen ihnen vorerst Einlass in die Mienen geben, bis sie das Material haben. Wenn sie es dann haben, will er erst sehen, was sie daraus schmieden, bevor wir ihnen weiterhin Zulassung erstatten", erzählte sie vom Inhalt des Briefes, den sie ja jetzt neu schreiben musste. "Und selbstverständlich müssen sie von mir und den anderen begleitet werden, sonst würden sie sich verlaufen und ohne jegliche Nachricht sterben."
"Na dann würde ich an deiner Stelle schnell den Brief schreiben", meinte Swetlana, welche nun mit ihrer Reihe fertig geworden war.
Langsam bildeten sich Falten der Wut auf Nazars Stirn und ihr Mundwinkel zuckte förmlich nach oben.
"Und ich würde an deiner Stelle DIE KLAPPE HALTEN UND SELBST DEN BRIEF SCHREIBEN", brüllte die Turmwächterin die Blonde voller Wut in der Stimme an.
"Okay, okay, ich schreib den Brief..."

"Das wär's dann", beendete Nazar das 'Diktat' und sah sich das Stück Papier an, welches von Swetlana beschriftet wurde. "Hast du alles?"
"Ja... ja, sollte alles sein...", meinte sie und nahm den Text auch wieder in Augenschein.
"Gut."
Nazar holte sich eine brennende Kerze und schwarzes Siegelwachs. Das Wachs ließ sie auf das zuvor zusammengerollte Papier tropfen und dann stempelte sie das pechschwarze Siegel ihres Clans drauf, welches drei Berge abbildete.
"Sobald ich wieder zurück im Dorf bin, werde ich es abschicken lassen. Ich werde nie wieder einen Brief im Grünen Clan schreiben", seufzte sie und steckte die Rolle in das dazugehörige Rohr.
"Das solltest du dir besser merken", lachte Sweta amüsiert, während sie die Feder wieder beiseite legte.
"Dass ich nicht lache..."

"Mein Name ist Antonia Olympia, Baron-Kriegerin des Sonnenclans", stellte sich eine junge, schwarzhaarige Frau vor und verbeugte sich vor den Turmwächtern und dem Anführer des Berg Clans. "Und dies ist meine Partnerin, Josephine. Sie ist sozusagen unser Schmied." Sie zeigte auf eine etwas jüngere Person mit langen, braunen Haaren, die ein wenig gewellt waren.
Auch sie verbeugte sich und sagte: "Auf gute Zusammenarbeit."
"Shina Kurosaki. Wir werden euch in die Mienen begleiten, damit ihr euch nicht gleich verirrt, die Wege sind sehr verzweigt. Aber", sagte die Braunhaarige mit dem geflochtenen Zopf nur und beachtete die Anzahl an Leuten, die gekommen waren, "seit ihr euch sicher, dass ihr nur zu zweit mitkommen wollt?"
Sie sah die zwei Frauen, die kaum älter sein konnten als sie selbst, mit ihren haselnussbraunen Augen an, als wären sie viel schwächer und überhaupt nicht für gefährliche Situationen trainiert.
Shina Kurosaki. Zweites Kind Dullahans, dem Anführer des Clans. Als Schwester des Nachfolgers übernimmt sie die Verantwortung über ihren älteren Bruder, der - im Gegensatz zu ihr - oft sehr leichtsinnig handelte. Im Grunde genommen ist sie ein wenig kälter drauf, doch bei Späßen mit ihren Verwandten war sie immer dabei.
"Wir sind uns sicher, eure Mienen auch nur mit zwei Leuten bewältigen zu können", meinte Antonia selbstsicher. "Sollte es darauf ankommen, werdet Ihr auch nicht der Pflicht ausgesetzt, uns im Kampf zu helfen."
"In den Mienen gibt es nur Fledermäuse, sonst nichts. Ihr müsst euch keine unnötigen Sorgen machen, dass euch plötzlich ein Monster entgegen kommt", sprach ein Junge mit blau bis schwarzen Haaren und einem Stirnband mit Federn daran gebunden.
Bei diesem Jungen handelt es sich um den Cousin zweiten Grades der Turmwächterin, Nazar. Er lautet auf den Namen Leiron.
Die zwei Mitglieder des Sonnenclans bedankten sich noch bei ihren Begleitern und sie alle machten sich dann auf den Weg zum Berg, um das mysteriöse Material, Orychilon, zu finden.
Dort angekommen, zündeten sie erst Fackeln an, bevor die schwarze Höhle erleuchtet wurde. Darauf flogen noch einige Fledermäuse heraus, was rein niemanden der Einheimischen erschreckte.
"Nochmal zum Klarstellen. Wir werden euch nur begleiten, damit ihr euch am Ende nicht verirrt. Das Material müsst ihr selber suchen", sagte Nazar und drückte Josephine ohne Rücksicht die brennende Holzfackel in die Hand, welche leicht erschrocken angenommen wurde.
Die Verachtung auf deren Fähigkeiten war den vier Turmwächtern deutlich abzulesen. Sie verließen sich nun wirklich nicht auf die Gelben Leute.

"Glaubt ihr, dass sie es wirklich finden können?", fragte Leiron misstrauisch, während sie die beiden vor ihnen in die Höhle begleiteten.
"Bestimmt nicht", flüsterte Shina zurück.
"Seid doch nicht so gemein zu unseren Gästen, sie wollen doch nur ein Material suchen", meinte der Nachfolger mit braunen Haaren gutgläubig. "Sie suchen nur danach, also werden sie unseren Berg schon noch nicht zerstören."
"Sei nicht so leichtgläubig, Teras! Woher willst du überhaupt wissen, dass sie es wirklich auf Orychilon abgesehen haben? Aus diesem Stein kann man gar nichts fertigen, erst recht keine Waffen", widersprach Shina ihrem Bruder voll Zorn.
"Ich habe nie gesagt, dass ich ihnen vertraue", sagte Teras lächelnd. "Ich sagte lediglich nur, dass wir ihnen vorerst zusehen sollen, wie Vater es uns befohlen hat. Außerdem werden Sie es eh nicht finden, solange wir ihnen nicht sagen, wo es sich befindet."
Am Ende grinste er noch mit Boshaftigkeit in sich hinein.
Mir diesen Worten ließ er seine Partner hinten stehen und schloss sich Antonia und Josephine an.
"Wie kann Teras nur so dumm, aber dennoch so klug sein...", seufzte Nazar mit leichtem Grinsen und schloss auch wieder an.

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