Der Regen fühlt sich kalt auf meiner Haut an. Kalter Regen. In Brasilien gab es nur warme Schauer, ähnlich einer wohltuenden Dusche nach einem anstrengenden Tag. Die Luft war dort warm und gespeist mit dem frischen Duft des Urwalds, der Wind trug nur die Ruhe mit sich, die diesem Ort innewohnt. Hier ist es laut und hektisch. Und es stinkt. Mit jedem Atemzug fühle ich die Abgase mehr und mehr, die sich in meiner Lunge festsetzen. Wie halten Londoner das aus? Ich fühle eine warme Hand, die in meine gleitet. Ich sehe auf in das lächelnde Gesicht meines Vaters. Er ist alles, was mir von meinem alten Leben noch geblieben ist. Naja, und Xoulu, dessen geringes Gewicht beständig auf meiner Schulter lastet, abgeschirmt von den Blicken Außenstehender durch sein langhaariges, silbriges Fell. „Hast du alles?", fragt mich mein Vater zum bestimmt hundertsten Mal. Pflichtbewusst nicke ich, innerlich jedoch verdrehe ich die Augen. Er macht sich mehr Sorgen als ich wegen der neuen Schule. Dabei ist das Einzige, das mich tatsächlich umbringen könnte, die Langeweile, die mich dort erwarten wird. Eine alte Burg mit alten Lehrern und veralteten Methoden. Außerdem kenne ich den Stoff der ersten zwei, wenn nicht drei Jahre bereits. Ein Sog erfasst uns, London verschwindet, wir finden uns in einer wiesenreichen Landschaft wieder. „Xoulu passt auf dich auf, okay? Du musst keine Angst haben." Seine Schritte beschleunigen sich, als der kleine Bahnhof im Dorf am Fuße von Hogwarts in Sicht kommt. Diesmal kann ich nicht anders, als einen Kommentar abzugeben. „Dad, der Einzige, der hier Angst hat, bist du. Mir passiert schon nichts." Er bleibt stehen, umarmt mich fest und streicht mir beruhigend über den Rücken. „Ich weiß, ich weiß", murmelt er. „Ich mache mir nur Sorgen, wie du mit alldem zurechtkommst. In letzter Zeit war alles ziemlich durcheinander." Kann man wohl sagen. Ich löse mich von ihm und erwidere: „Mit mir ist alles okay, Dad. Mach dir keine Sorgen." Er nickt, drückt mir einen kleinen Kuss aufs Haar und schiebt mich dann Richtung Bahnhof. „Los, sonst kommst du zu spät. Ich liebe dich!" „Ich liebe dich auch", rufe ich über die Schulter zurück und halte direkt auf einen großen Kerl zu, der am Bahnsteig steht und wartet. Er hat lange, braune Haare und einen Vollbart, unter dem man ein ganzes Bataillon an Minimuffs verstecken könnte. „Hagrid?", frage ich beim Näherkommen. Er sieht auf und unter den ganzen Haaren meine ich, ein Lächeln zu erkennen. „Du muss' Eleanor sein. Schön, dich endlich kennenzulernen. Hab schon viel von dir gehört. Ham auch über fast nix anderes geredet, die Professoren." Er will mir auf die Schulter klopfen, doch Xoulu gibt einen schrillen Warnschrei von sich und beißt einen der fleischigen Finger. Toller erster Eindruck! Ich will mich gerade entschuldigen, als ich seinen faszinierten Blick sehe. Xoulu hat sich dazu entschieden, sichtbar zu werden, um Hagrid seine drohend gefletschten Zähne zu zeigen. „Ein Demiguise, ich werd verrückt!", poltert er, ist aber so klug, ihn nicht noch einmal anzufassen. „Wo hastn den her? Die sind verdammt schwer zu bekommen, weil sie sich so schwer fangen lassen. Und ihr Fell geht für horrende Preise weg." Ich nicke leicht. Er scheint sich auszukennen. „Mein Vater hat ihn auf einer Reise durch Indien entdeckt. Jäger hatten ihn vor kurzem erst geschoren und ihn dabei verletzt. Mein Vater pflegte ihn gesund und seitdem ist er bei uns." Hagrid kratzt sich am Hinterkopf. „Das is ja'n Ding. Kennt sich dein Vater mit magischen Geschöpfen denn gut aus?" Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen. „Ja, so könnte man sagen." Das laute Pfeifen einer Lokomotive unterbricht unser Geplauder. Ich habe schon allerhand Geschichten vom Hogwartsexpress gelesen und fand ihn nie sonderlich spannend, doch real sieht er sehr viel imposanter aus als auf den wenigen Bildern, die ich gesehen habe. Die scharlachrote Farbe ist selbst im Halbdunkel gut zu erkennen, das Rattern der Räder durchschneidet die abendliche Stille. Vor uns kommt der Zug zum Stillstand. Es dauert nicht lange, bis er die ersten Schüler ausspuckt. „Erstklässler zu mir! Erstklässler hierher!" Hagrids laute Stimme schallt über den Bahnsteig, und nach und nach rottet sich eine Menge vor ihm zusammen. Erst, als alle anderen weg sind, führt er uns zum See, auf dessen trübem Wasser bereits einige ziemlich morsch aussehende Holzboote treiben. Auch über den See habe ich ein, zwei Sachen gelesen. Ein Riesenkrake soll darin leben, ansonsten interessiert er mich nicht weiter. Die Boote bewegen sich ganz von allein und ohne unser Zutun. Ich kann die Nervosität der Erstklässler um mich herum fühlen. Sie sind verunsichert und fasziniert zugleich, manche haben richtig Angst, und andere wiederum sind nur leicht seekrank. Es ist ziemlich still, nur hier und da höre ich Geflüster. Mit einem leisen Seufzen erinnere ich mich wehmütig an meine Freunde an meiner alten Schule. Wir hatten so viel Spaß zusammen. Und jetzt trennt uns ein ganzer Ozean. Ich fühle mich so alleine wie noch nie. Xoulu bemerkt meinen Stimmungsumschwung und schmiegt sich etwas näher an mich, um mir mit seiner beständigen Wärme Trost zu spenden. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass mein Vater zugestimmt hat, den kleinen Racker mitzubringen. Vermutlich verstand er, wie dringend ich einen Freund in dieser neuen, fremden Welt brauchte. Die Boote kommen zum Stillstand, vor uns erhebt sich die Festung, stemmt sich gegen das letzte bisschen Licht dieses Tages. Der kalte Regen ist uns Gott sei Dank nicht von London gefolgt. Durch einen Gang gelangen wir direkt ins Schlossinnere und werden vor einer großen Türe abgesetzt. Man bedeutet uns, zu warten. Das macht die meisten um mich herum nur noch nervöser. Xoulu bemerkt die Anspannung im Raum, er wird unruhig. Beruhigend streiche ich über sein weiches Fell. Jemand tippt mir auf die andere Schulter, überrascht drehe ich mich um. Ein blonder, blauäugiger, schmächtiger Junge, um einiges kleiner als ich, sieht verlegen zu mir auf. „Äh, du weißt schon, dass du die Luft streichelst?" Seine Stimme ist noch hoch und unsicher. Zuerst bin ich verwirrt. Was meint er? Doch dann geht mir auf, dass niemand mein kleines Haustier sehen kann. „Oh nein, das ist Xoulu, ein Demiguise", erkläre ich ihm, und damit er ihn auch sieht, füge ich hinzu: „Xoulu, faça-se visíveis!" Ein kleines Knurren ertönt, doch er folgt dem Befehl. Dem Jungen vor mir klappt der Mund auf. „Wahnsinn! Ich dachte immer, es gäbe gar keine mehr. Welche Sprache war das?" Ich streiche Xoulu beruhigend, er verschwindet wieder. „Portugiesisch. Ich komme aus Brasilien." Er macht große Augen. „Du bist also die neue Schülerin, über die alle reden? Du siehst gar nicht aus wie eine... äh..." Er macht eine kleine verlegene Pause, bevor er mir die Hand hinhält und sagt: „Kevin Whitby." Ich schüttle sie und sage: „Eleanor Branstone." Wir lächeln uns an, doch bevor wir noch etwas sagen können, wird die doppelflügelige Tür aufgerissen und eine ältere Hexe erscheint im Rahmen. „Liebe Schulanfänger", beginnt sie mit einer für ihr Aussehen ziemlich energischen Stimme. „Ich bin Professor McGonagall und ich unterrichte Verwandlung. Eure Zeremonie zur Zuteilung auf die verschiedenen Häuser beginnt jetzt. Wenn ihr mir bitte in die Große Halle folgen würdet." Wir tun es widerstandslos und schweigend. Die Große Halle ist zum Bersten voll mit Schülern, die verteilt auf vier lange Tische sitzen. Auf einer Art Podium steht ein weiterer langer Tisch für die Belegschaft. Ich erkenne bereits ein paar der Gesichter, zum Beispiel Hagrid oder den Direktor Dumbledore, mit dem ich bereits ein Gespräch führen durfte. Auf einem Stuhl in der Mitte liegt ein alter, abgetragener Hut. Wir versammeln uns davor, und plötzlich fängt er an zu singen. Ich traue meinen Augen (und Ohren) kaum. Seit wann singen Kleidungsstücke? Alle anderen scheinen etwas so ähnliches erwartet zu haben, sie sehen zumindest nicht schockiert aus. Er singt von vier Gründern und deren Häusern, er singt von Charakterzügen, die in einem Haus besonders dominant sind. Ich habe von diesem System gehört. Man wird zugeteilt aufgrund der Eigenschaften, die man entweder besitzt, das Potenzial dazu in sich trägt oder aber sie schlicht wertschätzt. Was ja eigentlich komplette Idiotie ist. Ich meine, nehmen wir als Beispiel Gryffindor. Dort werden Mut, Loyalität und Draufgängertum gern gesehen, so habe ich das zumindest meiner Recherche entnommen. Sicher, bei denen wird es immer lustig sein, aber wer hält sie von dummen Taten ab? Na eben. Es werden immer wieder Namen aufgerufen, die Kinder bekommen den Hut aufgesetzt, und der Hut schreit das zugeteilte Haus. Seltsam. Ich wundere mich immer mehr über diese Schule. Kevin, der Junge von vorhin, wird aufgerufen, er kommt nach Hufflepuff. Das Haus der Treue, der Hilfsbereitschaft und der Gerechtigkeit. Außerdem, wie ich herausfinden durfte, ein Haus ohne besonderen Ruf. „Eleanor Branstone!", schallt es von dem Podium. Ich steige hinauf und bekomme den alten Hut aufgesetzt. Gott sei Dank ist Xoulu so schlau und duckt sich einfach, anstatt zu schreien oder zu knurren. Ein paar Momente geschieht nichts. Doch dann höre ich eine kleine Stimme in meinem Kopf. „Äußerst schlau und denen, die du liebst, treu ergeben. Du lernst ständig und gern Neues, doch du setzt Klugheit und Wissen nicht an erste Stelle. Heimtücke und List sind zwei Eigenschaften, die dir völlig fremd sind. Du bist ehrlich und gerecht. Das einzig richtige Haus für dich ist HUFFLEPUFF!" Das letzte Wort schallt durch die ganze Halle, einer der vier Tische applaudiert mir. Ich nehme an, zu dem muss ich. Herzlich werde ich von meinen Hauskameraden begrüßt, es wird gelächelt und gratuliert. Ich setze mich neben Kevin Whitby, scheu grinst er mich an. „Jetzt, wo wir schon einmal im gleichen Haus sind... wollen wir Freunde sein?" Erneut hält er mir die Hand hin. Ich grinse zurück und schlage ein. Abgemacht.
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Harry Potter One Shots
Fanfiction"In der Ferne werden Feuerwerke gezündet, und eine Uhr schlägt zwölf. „Frohes neues Jahr", flüstere ich und wende mich ihm zu. Wieder scheint er zu überlegen. „Was ist denn Neujahr ohne einen Kuss?", murmelt er schließlich und beugt sich vor. Doch b...