Ruby

80 4 1
                                    

Deine Geschichte beginnt am Anfang deines vierten Jahres in Hogwarts, am Bahnhof King's Cross.

Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen entfährt mir, als ich vorsichtig meine Rippen befühle. Ich beiße die Zähne zusammen und halte die Tränen zurück. Verdammt, schon wieder gebrochen. „Ruby? Du musst langsam los." Ihre leise Stimme hallt durch die Bahnhofstoilette, und ich beeile mich, meinen Pulli wieder über die blauen Flecken gleiten zu lassen. Schnell betätige ich die Spülung, trete aus der Kabine heraus und wasche mir flüchtig die Hände. Meine Mutter steht in der Tür, ihr Blick besorgt wie immer. Ich will gerade an ihr vorbei nach draußen gehen, als sie mich an der Hand festhält und flüstert: „Ist es sehr schlimm?" Ich erwidere ihren Blick, sehe ihre blauen, kummervollen Augen, ihr blondes, wirres Haar, die Falten, die die Sorge in ihr hübsches Gesicht gegraben hat, ihren viel zu dünnen Körper, ihr Kleid, dass sie schon öfter geflickt hat als sie Kleidungsstücke besitzt, und schüttle automatisch den Kopf. Ich kann es ihr nicht sagen. Ich zwinge mir sogar ein Lächeln auf die Lippen, als ich antworte: „Nein, alles okay, Mum. Nur ein paar blaue Flecken, halb so wild." Sie erwidert zwar mein Lächeln, dennoch sammeln sich Tränen in ihren Augen. „Es tut mir so leid, Ruby. So unendlich leid." Anstatt einer Erwiderung ziehe ich sie einfach in meine Arme. Sie ist so klein und zerbrechlich; sie braucht meinen Schutz mehr als ich ihren. Nach einer Weile löse ich mich und sage: „Ich muss los. Und du passt auf dich auf, ja?" Sie nickt und strafft ihre Schultern, ich weiß, sie versucht, stark zu sein. Bevor ich auch noch in Tränen ausbreche, mache ich mich beinahe fluchtartig auf den Weg zum Hogwartsexpress.

„Ist hier noch frei?" Ich hebe den Kopf und blicke in zwei völlig identische Gesichter. Gerade noch so unterdrücke ich ein frustriertes Stöhnen. Fred und George, die Spaßvögel schlechthin. Die haben mir gerade noch gefehlt. Trotzdem nicke ich kurz, bevor ich mich erneut in mein Buch vertiefe. Sie nehmen mir gegenüber Platz, wobei ein kurzer Streit um den Sitz am Fenster entflammt, und kümmern sich dann eine Weile um ihren Kram. Doch es wäre ja zu schön gewesen, wenn sie mich die ganze Fahrt in Ruhe gelassen hätten. „Du bist Ruby, richtig?" Ich hebe den Kopf, die Zwillinge mustern mich fragend. Der am Fenster, George, hat die Frage gestellt. Ich nicke knapp und will mich wieder meinem Buch zuwenden, als Fred fragt: „In welchem Haus bist du nochmal? Ravenclaw?" Kurz stutze ich und warte auf ihr Gelächter, das den Scherz enttarnt, doch es kommt nicht. „In Gryffindor. Ich bin seit drei Jahren mit euch in der Klasse." Verwirrt sehen sie mich an. „Bist du dir da sicher? Ich hab dich nämlich..." „...noch nie gesehen", vervollständigt George den Satz und ich verdrehe nur die Augen. „Vielleicht wollte ich von euch auch nicht gesehen werden", murmle ich, die Zwillinge hören gnädig über die Beleidigung hinweg, denn etwas anderes hat ihre Aufmerksamkeit geweckt. "Was liest du da?", will George neugierig wissen und schnappt nach meinem Buch. Geistesgegenwärtig packe ich fester zu und es bleibt in meinen Händen; doch weil ich weiß, sie werden keine Ruhe geben, zeige ich ihnen das Cover. „Allein", liest George halblaut vor, doch es ist Fred, der wissen will: „Wovon handelt die Geschichte?" Ich zögere, ich glaube nicht, dass es ihn interessiert. Doch er lächelt so warm, in seinem Blick liegt so viel aufrichtige Neugier, dass ich schließlich doch stockend beginne, den Handlungsverlauf des Buchs widerzugeben. „Es... es geht um ein Mädchen, Hope. Sie kommt aus ziemlich beschissenen Verhältnissen. Ihr Stiefvater ist Alkoholiker und schlägt sie die ganze Zeit, doch ihre Mutter hat zu viel Angst, sich von ihm zu trennen. Ihre Mum ist auch nie daheim, da sie ungefähr fünf Jobs machen muss um die Familie über Wasser zu halten. Sie hat niemanden, in der Schule wird sie nur schikaniert und mies behandelt..." Ich stoppe mich selbst in meinem Redefluss und werde rot. Verdammt, dass ich auch nie meine Klappe halten kann. „Es ist bloß ein Buch", murmle ich und sehe betreten zu Boden. Ich erwarte Gelächter, Witze, doch nichts dergleichen geschieht. Vorsichtig sehe ich auf und blicke in ihre vollkommen freundlichen und zugleich ernsten Gesichter. „Bitte, erzähl mehr davon", fordert mich Fred auf und lächelt sanft. „Nein, wirklich, ich habe mich mitreißen lassen", versuche ich, das Thema abzuschließen. Es kann sie nicht wirklich interessieren. Oder doch? Freds Lächeln wird eine Spur intensiver, als er es nochmal versucht: „Bitte, Ruby." Die Art und Weise, wie er meinen Namen ausspricht... so zärtlich, so leidenschaftlich, so voller Versprechungen. Mein Herz, das noch im Kleinkindalter seine Aufgabe als Vermittler von schönen Gefühlen an den Nagel gehängt hat, beginnt nun, mit einer rasenden Geschwindigkeit zu schlagen, die chronische Furcht, die sich vor langer Zeit wie eine eisige Faust um meinen Magen geschlossen hat, beginnt sich zu öffnen; Wärme und Geborgenheit durchströmen mich. Was zur Hölle ist jetzt los? Erleide ich einen Herzinfarkt? Hyperventillire ich? Oder liegt es wirklich nur an Fred Weasley?

Harry Potter One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt