DREI

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Einige Tage danach

Regin zu schlagen war nur ein kleiner Akt des Aufbegehrens, doch ich merke seitdem, dass ich mich verändere. Wo ich früher noch voller Angst mit gesenktem Kopf durch die Flure gelaufen bin, schreite ich heute mit weit ausholenden, selbstbewussten Schritten dahin. Zwar bin ich immer noch die Außenseiterin und das Opfer unter all den hoch Angesehenen, was mich Regin und seine Gruppe nicht vergessen lassen, aber ich lasse mich nicht mehr so einschüchtern wie früher.

Die meiste Zeit des Tages verbringe ich wie gehabt in der Bibliothek des Internats, die so riesig ist, dass ich Zweifel habe, jemals das volle Potential der Ansammlung von Büchern auszuschöpfen, was mich dazu antreibt, es nur noch mehr zu wollen und auch zu versuchen.

Mit gerunzelter Stirn versuche ich aus der Matheaufgabe schlau zu werden, die wir als Hausaufgabe aufbekommen haben. Sonst habe ich eigentlich nie Schwierigkeiten, etwas auszurechnen, doch hinter dieser Formel steckt scheinbar keine Logik. Und Dinge, die nicht logisch sind, finde ich schrecklich, denn das kopiere ich immer sofort auf mein eigenes Leben, das auch keinem bestimmten Muster folgt. Die einzige tagtägliche Situation ist die Demütigung, die ich über mich ergehen lassen muss.

Seit drei Jahren suche ich nach Gründen, weshalb ich hier bin, weshalb man mein Dorf niederbrannte und meine Eltern gefangen nahm, doch man verbietet mir den Mund, lässt mich verstummen und ermahnt mich.

Mittlerweile habe ich festgestellt, dass Antworten das höchste Gut in diesem Internat sind, denn davon gibt es kaum welche.

Die schwere Tür fällt zu und ich zucke zusammen. Selbst das leiseste Geräusch bleibt mir nicht verborgen, es scheint, als würde ich jedes Ereignis, das um mich herum geschieht, in mich aufsaugen. Meine Muskeln spannen sich an in der Erwartung, eine unangenehme Überraschung zu erleben, doch es ist nur Dolores, die Bibliothekarin, die meine Liebe zu Büchern teilt. Mehr weiß ich auch schon nicht mehr über sie, obwohl sie es – das glaube ich zumindest – gerne ändern würde.

Sie kommt auf mich zu, einen Stapel Bücher unterm Arm. Dolores ist vielleicht vier Jahre älter als ich, also ungefähr zwanzig Jahre alt. Sie ist hübsch und modebewusst, was mich immer wieder dazu veranlasst, mich zu wundern, wieso es sie ausgerechnet hierher verschlagen hat, besonders, weil ich manchmal den Eindruck habe, es würde ihr hier nicht einmal gefallen. Sie wäre jedenfalls nicht die erste, die nicht sonderlich begeistert davon ist hierzusein.

»Hallo, Faith«, sagt sie und lächelt mich breit an. Ich nicke nur kurz, sehe sie jedoch nicht an, sondern blicke auf meine verzwickte Aufgabe. Was ich mittlerweile noch mehr hasse als vollkommen ignoriert zu werden, ist es, angesprochen zu werden. Meine Abneigung, Freundschaften einzugehen, mag manchen absurd erscheinen, aber bis jetzt habe ich noch keine Person in diesem Gebäude kennengelernt, die dafür geeignet zu sein scheint, mich zu verstehen oder vertrauenswürdig genug ist, um ihr meine Gefühle offen darzulegen.

Ächzend lässt Dolores den Stapel Bücher auf den Tisch fallen und nun blicke ich doch auf. Neugierig betrachte ich auf die unbekannten Einbände und frage mit kaum überhörbarer Verwunderung: »Sind die neu?«

»Ja«, antwortet Dolores stolz und lacht. »Der Direktor hat mir eine jährliche Summe zugestanden, mit der ich einige Bücher besorgen kann.«

»Das ist wunderbar«, murmle ich und fühle trotz des ganzen unwirklichen Gehabes ein Gefühl von Dankbarkeit dem Mann gegenüber, der den Titel des Direktors trägt.

»Oh ja, das ist es«, stimmt Dolores mir zu, dann hält sie inne. »Hättest ... Hättest du Lust, mir beim Katalogisieren behilflich zu sein?« Ich merke sehr wohl, wie zögerlich diese Worte kommen und weiß, dass sie nicht wirklich denkt, dass ich auf das Angebot eingehe, doch zu meiner eigenen Überraschung nicke ich langsam.

The Delta-Turn *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt