Kapitel 2

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Kapitel 2

Langsam öffnete Kenke die Augen. Er spürte seine Neli ganz dich an sich gedrückt. Es verging keine Nacht, in der ihr nicht kalt war. Kenke graute jeden Tag vor dem Morgen, da er jeden Morgen in Dunkelheit aufwachen würde. Doch wer konnte sicher sagen, dass dies der Morgen war? Der Tag war noch finsterer als die Nacht, denn die hatte ihre Sternen. Vielleicht hatten sie schon Mittag, ohne es zu merken?

Neli regte sich ein wenig und schlug ebenfalls die Augen auf. Da sie nichts sehen konnten, musste immer eine kleine Flamme entzündet sein. Auch wenn ihr Licht nur schwach war, so war es doch besser als im Dunkeln umher zu tapern. „Morgen.“, hauchte Kenke und strich Neli über ihre wilden schwarzen Haare. Ihre grünen Augen sahen müde zu ihm auf. „Heute muss ich gehen, meine Liebste.“ „Ja, ich weiß. Doch wir brauchen dringend Rat. Während deiner Abwesenheit werde ich bei einer Freundin wohnen und arbeiten, sofern arbeiten bei dieses Verhältnisse überhaupt möglich ist.“ Neli stand auf und entzündete ein weiteres Licht. „Ich gehe und sehe nach der Fremden.“, verkündete sie und verschwand mit dem kleinen Licht.

Kenke fasste sich einige Male den Entschluss endlich aufzustehen, doch diese Entschlüsse schlugen fehl. Immer und immer wieder. Mühsam quälte er sich schließlich aus dem Bett und zog sich an. Er wollte sehen, wie viel der Sturm in der letzten Nacht zerstört hatte. Er trat vor die Tür und erblickte nichts Außergewöhnliches. Alle ihre Nachbarn hatten ihre Häuser mit kleinen leuchten ausgestattet. Ein jeder musste sich so schnell wie möglich den gravierenden Veränderungen anpassen. Der Tag war noch schlimmer als die Nacht. Der ganze Rhythmus des Lebens geriet außer Kontrolle. Ihre Arbeit auf dem Feld war hinfällig, genauso war es nicht mehr möglich seine Viehherden oder Schafe auf eine Wiese zu bringen. Die Finsternis hatte böse Geschöpfe hervor gebracht. Vielleicht hatte es diese Kreaturen auch schon ewig gegeben, bloß hatte es niemand bemerkt, da sie sich bisher nie gezeigt hatten.

Die Frau von Kenkes Freund war schon wenige Stunden nach der Sonnenfinsternis angegriffen und getötet worden. Sie hatte sich alleine in den Wald begeben, lange bevor die Dunkelheit über sie hereinbrach. Nach dem Schauspiel fand sie den Weg aus dem Wald nicht mehr und hatte versucht jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Statt Hilfe hatte sie wilde Tiere zu sich gerufen. Erst ihre furchtbaren Angstschreie wurden von einigen wahrgenommen. Doch es war bei weitem zu spät… Ihr Körper auseinander gerissen, kaum wiederzuerkennen. Es war das fürchterlichste, dass Kenke je zu Gesicht bekommen hatte und auch viele andere wandten ihren Blich entsetzt ab. Für seinen werten Freund Selnor war es wie ein Schlag ins Gesicht, selbst da er seine Frau nie wirklich geliebt hatte. Es war eine arrangierte Hochzeit, eine solche Bindung hatte noch nie viel mit Liebe zu tun. Dennoch saß der Schock tief. Zum einen hatte Selnor sich immer gut mit Aila verstanden, und zum anderen war nur ein toter Körper zu sehen, doch in Wirklichkeit wurden zwei Leben ausgelöscht. Ja, Aila war schwanger… 

Genau in diesem Moment wurde Kenke von Selnor höchstpersönlich aus seinen Gedanken gerissen. Einige Tage waren vergangen und er hatte seinen Verlust seelisch sehr gut verarbeiten können, wenn auch sein Gesicht etwas ganz anderes erzählte. Er sah noch immer müde und erschöpft aus, gab sich aber größte Mühe seinen Freund mit einem Lächeln zu begrüßen. „Kenke, dich haben wir ja schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen.“, rief er und kam in der Dunkelheit immer näher. Auch er trug ein schwächliches Licht bei sich. „Ja…“, murmelte Kenke leise. Selnor räusperte sich und legte seinen Arm um seinen besten Freund. Seit ihrer Kindheit waren sie Freunde und durch nichts zu trennen. So konnte der eine den anderen lesen wie ein offenes Buch. Manchmal wusste der eine mehr über den anderen, als sie über sich selbst wussten. „Es ist eine harte und karge Zeit. Wir müssen das Beste daraus machen, mein Freund.“, sprach Selnor zu Kenke mit seiner ruhigsten und verständnisvollsten Stimme.

Die Nacht machte es Kenke schwer die dunkle Erscheinung Selnors auszumachen. Selnor gehörte zu den Menschen, die man als eine „dunkle Schönheit“ bezeichnete. Scharfe Züge, glatte Haut, tief durchdringende Augen, dicke schwarze Haare, breite Schultern und nahezu perfekte Zähne. Dazu kamen noch seine kräftige Statur und seine außergewöhnliche Größe. Selnor überragte alle Männer im Dorf in jeglichen Punkten. Dies hatte ihm viele Freunde und Verehrerinnen, und ebenso viele Feinde beschert.

Kenke gab ihm recht. Es musste dringend etwas passieren, doch dazu brauchte er Hilfe und Rat. Und er wusste, dass die fremde Frau eine bestimmte Rolle zu spielen hatte. „Selnor, ich werde…“, begann er, um seinem Freund von seiner anstehenden Reise zu erzählen. Doch plötzlich tauchte hinter ihm eine vertraute Wärme auf. Selnor hatte sich als erster umgedreht, denn auch ihm war diese merkwürdige Wärme nicht entgangen. Hinter ihnen stand die schöne Frau vom gestrigen Abend. Selnor war, genau wie Kenke zuerst, überwältigt von ihrer Erscheinung. Sie trug jedoch nicht mehr ihr dünnes glitzerndes Kleid, sondern eines, wie Kenke erkannte, von seiner Frau. Auch musste ihr Neli Schuhe von ihr gegeben haben. Ihre welligen Haare hatte sie sich seitlich leicht hochgesteckt. „Selnor…“, begann Kenke von neuem. „Diese Frau habe ich gestern Abend alleine draußen gefunden. Unglücklicherweise hat sie ihr Gedächtnis verloren und kann sich auch nicht an ihren Namen erinnern.“ Sofort richtete sich Selnor auf, wandte seine Augen jedoch nicht für einen Moment von ihr ab. Er nahm zärtlich ihre Hand und küsste ihren Handrücken. Lächelnd sagte er: „ Es freut mich die Bekanntschaft einer so schönen Frau zu machen.“ Ein Schmeichler warst du ja schon immer, dachte Kenke schmunzelnd.  Die Frau lächelte freundlich zurück. „Bei dieser Gelegenheit wollte ich euch direkt etwas fragen.“, bemerkte Kenke und die goldenen Augen richteten sich wieder auf ihn. „Ich habe vor in den Süden zu gehen. Die Anateli haben die größten Gelehrten unserer Zeit unter sich. Ich möchte sie um Rat und Beistand für die Zukunft bitten und vielleicht können sie euch auch helfen eure Erinnerungen wiederzuerlangen.“ „Das ist wunderbar. Ich brauche unbedingt Antworten, bevor mich die Fragen in den Wahnsinn treiben. Ich werde mit euch kommen!“, versprach die Frau zuversichtlich. „Wenn es euch nichts ausmacht, werde ich mit eurer Frau Proviant und Ausrüstung vorbereiten.“, schlug sie anschließend vor. „Das ist sehr freundlich.“ Kenke nickte dankend, woraufhin die Frau einen weiteren Knicks machte und sich umdrehte. Selnor sah ihr noch bis zum Haus nach, worin sie dann schließlich verschwand.

Selnor seufzte schwer und ließ sich auf einen Baumstumpf fallen. Das Licht beleuchtete sein Gesicht ein wenig. Seine Müdigkeit war von dannen, stattdessen machte sich ein Ausdruck von Glück und Unbeschwertheit auf seinem Gesicht breit. „Hat man so etwas schon gesehen? Sie sieht aus wie ich mir die schöne Herrin Draganda immer vorgestellt habe.“ Kenke schaute seinen Freund an. Diese Worte schienen in seinem Kopf sogar recht logisch. Es ergab auch ein wenig Sinn, und trotzdem war da noch sein Zweifel. Für seinen Verstand war das absolut absurd.

Selnor grinste Kenke schelmisch an. „Mir scheint du bräuchtest vielleicht auch noch einen weiteren Begleiter für deine Reise. Jemanden der sich gut auskennt in den Bergen.“ Kenke lachte laut. „Das sei mir recht! Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen und du würdest dich an der Anwesenheit deiner Draganda erfreuen.“ Selnor zwinkerte ihm zu und machte sich wieder auf den Weg nach Hause. Auch er bereitete sich für die kleine Reise vor. Es gab nicht viel was er in seinem Dorf vermissen konnte. Seine Frau und sein ungeborenes Kind hatten ihn verlassen und ließen ihn allein zurück. Nichts konnte ihn noch halten, wenn ihn etwas lockte wie eine schöne Frau. Insgeheim setzte er sich ein Ziel: Das Herz der Herrin zu erobern!

Guten Mutes verließ er sein Haus. Er schloss hinter sich die Tür ab und machte sich auf den Weg zu dem Haus seines Freundes. Ungeduldig wanderte er vor der Tür auf und ab, als sich plötzlich ein Lichtschweif auf den Boden zeichnete. Vor einem der Fenster stand eine Kerze, die ruhig flackerte. Selnor sah zum Fenster hinauf und sah außerdem noch seine Angebetete. Sie lehnte am Fensterrahmen und belächelte die kleine Flamme. Selnor beobachtete angespannt wie sie ihren schmalen Finger zur Flamme führte. Wollte sie die heiße Flamme etwa berühren? Sie tippte mit ihrem Finger leicht das Feuerchen an. Schlagartig schien das Licht förmlich zu explodieren. Grell strahlte der Lichtkegel aus dem Fenster und blendete Selnor so stark, dass er aufschrie. Schützend hielt er seine Arme vor die Augen und versuchte dem Licht zu entkommen, welches nun beinahe die ganze dunkle Nacht erhellte. Es war, als wäre die Sonne selbst in dem Haus...

Die Legende der ersten SonnenfinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt