Kapitel 5

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Kapitel 5

„Der Wind heult gespenstisch und umgarnt den schwarzen Berg. Er lässt die Blätter aufwirbeln und die Gräser tanzen, hin und her, vor und zurück. Doch die Bäume halten stand, bewegen sich nicht. Sie werden dem Willen der Lüfte niemals nachgeben. Und doch wird eines Tages der Tag kommen, an dem die Stämme brechen werden und die Äste und das Laub knirschend den Boden berühren werden. Der ewige Kampf zwischen Luft und Erde findet schon seit Jahren am Fuße des  Antelûs statt. Nur wird seine, in 6000 Meter hohe, Spitze dieses Schauspiel immer übersehen. Er sieht alles auf seiner Augenhöhe, wie die Wolken, die Sterne, den Mond und die Sonne. Wie vermisst der alte Berg doch die Sonne, die ihn immer in ein sanftes Gold getaucht hatte. Und den Mond, der ihn immer Silber scheinen ließ. Seit Wochen bleibt er farblos, versteckt in der schwarzen Nacht.“  Mit wallnussbraunen Augen sah die ausgesprochen junge  Hohepriesterin der Herrin in die goldenen Augen. Das dämmrige Licht der Fackeln und Kerzen ließ die Gesichter der jungen Männer aus dem Land der Winde scharf und ausgemergelt wirken. Behutsam betupfte die Hohepriesterin der Anateli ihre Stirne mit Wasser.

„Anante sprach eine Nacht vor eurem Eintreffen zu mir. Sie kam zu mir in meinen Träumen, wie sie es immer tut. Sie sprach von einem großen Verlust in ihren Reihen und, dass eine Rückkehr unbedingt notwendig sei. Unsere Ernte ist karg. Ein bitterer Schicksalsschlag für uns, da wir fruchtbare Erde gewohnt sind. Unsere Herrin berichtete mir von einem Kampf, der ihnen viel Kraft abverlangt, weshalb die Natur auf Saluley so leblos erscheint. Nun, jetzt habt ihr einen wertvollen Wegweiser in eurem Traum erhalten, Draganda.“ Draganda sah bei der Nennung ihres Namens auf. Sie kniete vor Kenke und Selnor und fuhr sich dabei immer wieder mit der Hand durch die goldenen Haare. „Leider verstehe ich nicht was Juliasa mir sagte.“ Betrübt sah sie zu Boden, doch die Miene der Anateli veränderte sich kein bisschen. „Erzählt mir davon.“, sagte sie nur mit ihrer Kinderstimme und schloss erwartungsvoll die Augen. Draganda versuchte sich an die genauen Worte der Herrin des Feuers zu erinnern und zitierte: „Eine Insel im Zentrum unserer Macht. Hier wachen wir, so nehmt euch in Acht! Von Nebel umhüllt, von Magie erfüllt.“

Für einen Augenblick herrschte Stille. Nichts war zu hören, außer das gleichmäßige atmen der beiden Männer. Schließlich öffnete das Mädchen die Augen und Draganda konnte ihr ansehen, dass sie in der Lage war die Worte zu deuten. „Habt ihr denn etwa die kleine Insel in der Mitte des Meeres vergessen? Seefahrer machen einen großen Bogen um die nebelumhüllte Insel. Es heißt, dass auf diesem heiligen Boden der Weg in die andere, in eure, Welt bereitet ist. Niemand hat sie bis zu diesem Tag betreten, doch ihr und eure Gefährten werden die ersten sein.“

„Ich weiß nicht, ob ich das von ihnen verlangen kann.“, meinte Draganda darauf. „Sie haben schon so viel getan.“ Leicht strich sie dem Mann über die Wange, der sie gefunden hatte. Die Hohepriesterin nickte und erhob sich. „Wir stellen euch ein Schiff zur Verfügung. Falls eure Freunde euch nicht begleiten, werde ich euch einige meiner Untergebenen mit auf den Weg geben. Die heutige Nacht ist stürmisch, doch bei Tagesanbruch dürfte eurer Reise nichts mehr im Wege stehen.“ Nach diesen Worten verneigte sich das Mädchen und verlies mit leichten und sicheren Schritten den Raum. Draganda sah ihr nach, doch plötzlich stöhnte jemand neben ihr. Kenke war aufgewacht und blickte die Herrin verwirrt an. Das Licht bereitete ihm Kopfschmerzen und er verengte die Augen etwas. „Was ist passiert?“ Die Herrin sah den Mann mit einem dankbaren lächeln an. „Wir haben es geschafft! Die Hohepriesterin hat mir gesagt was zu tun ist!“ Kenke atmete erleichtert auf, dann fiel ihm ein, dass er nicht der einzige mit Fragen war. „Was ist mit euch? Sind eure Fragen beantwortet?“  Draganda erkannte Neugier in den schwarzen Augen des Mannes.  Sie sahen dunkler und noch viel tiefer aus bei diesem Licht. Die junge Frau nickte. „Ich bin die Herrin der Sonne. Als diese muss ich zu einer Insel in der Mitte des Meeres, um in meine Welt zurückzukehren. Erst dann wird wieder alles so, wie ihr es kennt.“

Kenke sah die Frau ehrbürtig an und nahm jedes ihrer Worte auf. Seine Vermutungen waren beinahe richtig gewesen. Die Frau war wirklich die Herrin. Trotzdem fragte er sich noch immer, was die Herrin der Sonne auf Saluley zu suchen hatte. „Möchtet ihr mich dort hin begleiten? Ich akzeptiere jede Entscheidung! Ihr habt bereits so viel für mich getan.“ „Es wäre mir eine große Ehre euch zu begleiten, meine Herrin!“, versicherte er ihr. „Und ich bin mir sicher, dass Selnor das selbe sagen wird.“

*

Eine Priesterin der Anateli kam, noch bevor der schwarze Mond und die Sterne verschwunden waren, in das Zimmer der drei Gefährten. Die Männer und die Herrin bekamen Proviant und warme Kleidung zu ihrer Verfügung. Alle drei hatten sich schwere Fellmäntel umgelegt. Obwohl Kenke Jäger war, kannte er das Fell nicht. Vermutlich stammte es von einem Tier, das nur in den Bergen lebte.

Selnor fühlte sich äußerst unbehaglich dabei der Anateli zu folgen, schließlich war es dieselbe Frau, die sie die Treppe hinauf geführt hatte. Selnor nahm ihr dies immer noch etwas übel, obwohl er wusste, dass alles eine Prüfung gewesen war. Kenke schulterte die große Provianttasche und lief dicht hinter der Priesterin. Diese ging mit ihnen eine Treppe hinunter in die Kerker des Palastes. Es war ein Labyrinth aus Steinmauern und engen Wegen. Die Frau an der Spitze hielt eine Fackel um ihnen den Weg zu leuchten. Es war Kenke unverständlich, wie sie sich in diesem Gängegewirr zu Recht finden konnte. Er glaubte sogar schon sie hätten sich verlaufen, als sie vor einer Sackgasse landeten. Doch die Anateli drückte einen Stein in der Mauer ein und die Wand daneben schob sich knirschend und ruckelnd zur Seite. Dahinter schlängelte sich ein unebener Weg, der direkt in einen Abgrund zu führen schien. Die drei Fremden in diesem Land zögerten einen Moment, bevor sie der Einheimischen folgten. Draganda stolperte hin und wieder über einige große Steine, die genau auf dem Weg lagen. Nach ein paar Minuten gewann dann doch die Neugier über Kenke. „Verzeiht!“, rief er zu der Frau nach vorne. „Wo genau befinden wir uns gerade?“ „Dies ist ein Tunnel der direkt durch den Pass des Antelûs her führt, da es zu gefährlich wäre ihn zu überqueren. Dieser Weg wird uns auf die andere Seite des Berges und zu der Küste bringen.“, erklärte ihm die kleine Frau, ohne sich jedoch umzudrehen. Sie war auffällig leichter bekleidet als die Reisenden. Sie trug ein langes Tuch um ihre Hüften als einen kurzen Rock, der nur mit einer goldenen Kette an seinem Platz gehalten wurde. Ein weiteres grünes Tuch hatte sie sich um die Brust gewickelt und ihre schwere goldene Halskette, mit den großen runden Steinen darauf, war an dem Stoff befestigt und schien das Ganze zu halten. Über die Steine, über die die anderen so oft stolperten, lief sie barfuß.

Was Kenke auf den ersten Blick für einen Abgrund gehalten hatte, war eine tiefe Wölbung in der Erde. Sie rutschen einen langen Hang hinab, auf eine schwere Metalltür zu. Die Anateli holte einen Schlüssel heraus und steckte ihn in das rostige Schloss. Das Klicken hallte in dem Tunnel wieder und die Tür wurde geöffnet. Grelles Licht strömte ihnen entgegen und sie traten nach draußen. Das Licht war keinesfalls grell, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Es stammte von mehreren Fackeln in einer Reihe, die zu einem Holzsteg führten. Die Luft war salzig und der Boden unter ihren Füßen gab unter ihnen nach. Für Kenke, Selnor und Draganda war es das erste Mal, dass sie Sand unter ihren Füßen spürten. Vor ihnen lag das tiefe, blaue Meer und die Wellen rauschten gleichmäßig auf den Strand zu.

Plötzlich stand ein sehr großer und sehr schmaler Mann neben ihnen. Er überragte sogar Selnor noch mit einer Kopflänge. Wie ein großer Turm stand er da und begrüßte sie wie es der Brauch war. „Mein Name ist Chinasé und ich werde euer Reisebegleiter sein. Dies ist mein Schiff!“ Er wies zu einem kleinen Schiff, dessen Segel sich im Wind wölbten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 25, 2012 ⏰

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Die Legende der ersten SonnenfinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt