"Entschuldigen Sie ... ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ich will da eben mal hin - mal eben nach Ostberlin."
(Udo Lindenberg, anno 1983)
Wir hatten eine Bombenstimmung in Westdeutschland.
Das Wettrüsten des kalten Krieges hatte Anfang der 80er Jahre seine Klimax erreicht, und auch, wenn wir nicht die ganze Zeit davon sprachen und uns eher in Verdrängungstechniken übten, so gab es doch jederzeit diese unterschwellige Angst, dass entweder einer der Texasrangers oder einer der Leningradcowboys einen nervösen Finger am Abzug haben könnte. Die Grenze zwischen den beiden aufrüstenden Supermächten USA und UdSSR und den jeweils dazugehörigen Alliierten verlief ausgerechnet durch Deutschland-Deutschland. Natürlich spekulierten wir darauf, dass im Falle eines Krieges zunächst die gegenseitigen Metropolen angegriffen werden würden, aber was wäre, wenn einer der Cruise Missiles unterwegs die Puste ausging oder sie es sich einfach nur anders überlegte und auf halbem Weg bei uns oder dem anderen Deutschland runterkrachte?
Filme wie "Wargames" (1983) zeigten uns zu allem Überfluss, dass solche nervösen Finger auch schon einmal versehentlich abdrücken konnten, der pazifistische Schriftsteller J.M. Simmel widmete sich dem kalten Krieg nicht erst seit den 80ern, und die Band "Geier Sturzflug" surfte auf der Neuen Deutschen Welle mit "Besuchen Sie Europa - solange es noch steht" (auch 1983). Ich glaube, hüben wie drüben war jedem Deutschen, ob ost oder west, ganz einfach unwohl.
Sting lieferte 1985 mit "Russians" eine wunderschöne Ballade zum Thema Angst vor dem dritten Weltkrieg, aber Udo Lindenberg hat mit seiner Swing-Nummer "Sonderzug nach Pankow" zumindest bei uns grenznahen Wessis den Vogel abgeschossen: Er hat die Teilung Deutschlands mit Humor und Frechheit besungen (nach der Melodie des Chattanooga Choo Choo), aber er hat das Thema keinesfalls veralbert, es war ihm durchaus ernst.
Trotzdem haben wir uns gebogen vor Lachen, wenn er in seinen knallengen roten Jeans mit der Motorik eines hyperaktiven Holzhampelmanns von seinem Fläschchen Cognac gesungen hat, das erstens sehr lecker schmeckte und er zweitens gern mit dem Herrn Honnecker teilen würde, falls er (der Udo, nicht der Herr Honecker) denn endlich einmal im Republikpalast singen dürfe und dem Oberindianer "Hallololöchenhallo" sagen dürfe:
"All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen, nur der kleine Udo, nur der kleine Udo, der darf das nicht, und das verstehen wir nicht."
Einfach nur irrwitzig war die Vorstellung von einem "Honey", der sich heimlich die Lederjacke anzieht und auf dem Klo Westradio hört, weil er im Grunde doch auch ein Rocker ist. Dieses Bild werde ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen.
Ich weiß nicht, ob man im Osten den "Sonderzug nach Pankow" hören konnte/durfte (außer im West-Radio heimlich auf dem Klo), oder ob er auf dem Index stand. Unserer Generation hat Udo jedenfalls aus dem Herzen gesungen: Wir sind jung, wir sind deutsch und uns trennt eine Mauer.
Und das verstehen wir nicht.
1983 bin ich aus dem Harzvorland nach Baden-Württemberg getürmt, um zu studieren. Hier war der Konflikt der Supermächte ebenfalls präsent, aber die deutsch-deutsche Teilung spielte kaum eine Rolle - eher schon der schwäbisch-badische Grenzkonflikt. Da ich aber jedes Wochenende nach Hause gefahren bin, habe ich den Blick auf den Ostharz niemals verloren.
Ab 1986 hörten wir die Begriffe "Glasnost" und "Perestroika" aus dem Osten, und Michael Gorbatschow klang dabei sehr glaubwürdig. Trotzdem glaubten wir nicht so recht an eine Annäherung von Ost und West und schon gar nicht an einen "kalten Frieden". Wir glaubten auch noch nicht daran, als im Sommer 1989 eine solche Menge DDR-Bürger auf Teufel komm raus aus ihrem Land flüchtete, dass es weltweit Aufsehen erregte. Eher glaubten wir daran, dass der Teufel tatsächlich rauskäme.
9. November 1989:
Ein Tag wie jeder andere ... bis zum Abend. Ich weiß noch genau, dass ich mit einem weißen Frotteebademantel bekleidet war, als die sensationelle Nachricht mich erreichte. Es war spät geworden in der Redaktion, aber trotzdem wollte ich noch mit Freunden ausgehen. Nach einer schnellen Dusche versuchte ich, mir die Zähne zu putzen und gleichzeitig eine Kanne Kaffee zu trinken und nebenbei liefen die "Tagesthemen". Gleich beim ersten Bericht hätte ich fast meine Zahnbürste verschluckt: "Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind". Das war der Hammer. Die Mauer war gefallen. Ich musste mich erst einmal auf meine bebademantelten vier Buchstaben setzen, denn ich konnte es nicht glauben. Nach dem ersten Schock hatte ich es umso eiliger, loszukommen, um mich mit meinen Freunden auszutauschen. Handys gab es wohl schon, aber nicht für Otto-Normal-Telefonierer. Es wurde eine ziemlich lange Nacht.
Ich habe ein paar Tage gebraucht, um wirklich zu begreifen, dass im Harz die Grenzzäune verschwinden würden, so unglaublich fand ich das alles. In der ersten Zeit erwartete ich jederzeit die Nachricht, dass wir einer ausgewachsenen Medien-Ente aufgesessen waren. Aber es war alles echt: "Wir sind ein Volk!"
Und Udo war vom Paniksänger zum Propheten mutiert.
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Dieses Kapitel ist Sanduhr gewidmet, einer lieben Freundin, die das geteilte Deutschland ungefähr zum gleichen Zeitpunkt wie ich erlebt hat.
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Typisch Ossi - typisch Wessi! Erinnerungen an eine getrennte Vergangenheit
NouvellesAuch heute hört man es noch: "Typisch Ossi - typisch Wessi." Obwohl der Mauerfall schon so lange her ist, halten sich die Vorurteile hartnäckig. Doch wer kann sagen, woher sie kommen? Eine kurze Geschichte zur deutschen Geschichte. Cover von der li...