Warum hatte ich eigentlich einen Mann geheiratet, der Berge über alles liebte?
Mein frisch Angetrauter hatte die Idee, unbedingt den Brocken sehen zu müssen. Mir wäre ein Strandurlaub lieber gewesen, aber ich tat ihm den Gefallen, und im Sommer ging es in den Harz. Besonders aufregend war das nicht für mich, eigentlich sogar ein alter Hut, denn sehen konnten wir den Brocken vom Westen aus jederzeit. Bei guter Sicht schien der Berg sogar zum Greifen nah, war zu DDR-Zeiten aber natürlich unerreichbar. Er lag direkt im militärischen Sperrgebiet, in Sachsen-Anhalt (dort befindet er sich selbstverständlich auch heute noch), die Landesgrenze zu Niedersachsen verläuft 2 km westlich des Brockens. Klar, dass sich auf dem Gipfel des "westlichsten Stützpunkts Moskaus" Abhöranlagen des sowjetischen Geheimdienstes befanden; hier lauschten die Agenten also Westradio und Udos "Sonderzug nach Pankow".
Wir konnten nicht bis zur Bergkuppe fahren, jedenfalls 1994 noch nicht. Es gab einen hochgelegenen Parkplatz, und wir hatten Glück, überhaupt einen Stellplatz zu finden. Er war brechend voll und es hatte bereits Blechschäden gegeben. Hier fand eine Invasion statt, Touri-Truppen internationaler Wessis aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und den USA waren eingerückt sowie die allzeit reiselustigen Asiaten. Sie alle bevölkerten den Fußweg zum Gipfel.
"Los, wir laufen", schlug Luis Trenker, mein Ehemann, vor.
"Hast du 'ne Meise?" (Ich hatte Pumps an den Füßen).
"Warum trägst du keine Wanderschuhe?"
"Vielleicht, weil ich keine besitze?"
"Warum besitzt du keine Wanderschuhe?"
"Weil ich Wandern hasse!!!"
"Wieso hasst du Wandern?"
Wieso lassen wir uns nicht auf der Stelle scheiden?
Nach Abschluss der Friedensverhandlungen besuchten wir noch einige Ortschaften im Ostharz, darunter Schierke, Elend und Sorge. Der "Aufbau Ost" hatte hier entweder nicht stattgefunden, oder die Zustände vor der Grenzöffnung waren absolut verheerend gewesen. Irgendwo in einem dieser Orte trank ich den schlechtesten Cappuccino der Welt. Wozu zahlte man eigentlich Solidaritätszuschlag?
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Von einem Paradies ist unsere Welt noch ein großes Stück entfernt. Mit jedem Menschen wie psychologica wird sie jedoch ein bisschen besser.
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Typisch Ossi - typisch Wessi! Erinnerungen an eine getrennte Vergangenheit
Historia CortaAuch heute hört man es noch: "Typisch Ossi - typisch Wessi." Obwohl der Mauerfall schon so lange her ist, halten sich die Vorurteile hartnäckig. Doch wer kann sagen, woher sie kommen? Eine kurze Geschichte zur deutschen Geschichte. Cover von der li...