"Goslar stinkt!"
Fräulein Elli R. stand mitten in der Redaktion und verkündete diese Information mit einem Gesicht, als sei der dritte Weltkrieg nun doch noch ausgebrochen, bedauerlicherweise mitten in Goslar. Sie hatte ihren Sommerurlaub bei ihren Eltern verbracht, in einem kleinen Goslarer Vorort. Natürlich war es kein Zufall, dass gleich zwei "Fischkepf" (Fischköpfe) in Baden-Württemberg gestrandet waren. Fräulein R. war eine außerordentlich begabte Texterin, ich kannte sie von einem früheren Job und hatte sie in mein Team geholt.
Das außerordentliche Textertalent entlud sich in einem satzbautechnisch nicht völlig korrekten Wortschwall, dem zu entnehmen war, dass
• erstens Goslar einer Invasion mehrerer Myriaden von Ossis zum Opfer gefallen war, die
• zweitens mit ihren Trabis Goslars Straßen verstopften, deren Zweitaktmotoren
• drittens mit ihren grässlichen Abgasen die City verpesteten, und
• viertens nagten sämtliche eingeborenen Wessis am Hungertuch, da
• fünftens die Ossis sämtliche Lebensmittelläden okkupiert hatten, die
• sechstens mehrmals am Tage schließen mussten, um die Regale aufzufüllen, und die
• siebentens manchmal gar nicht mehr öffneten, da es nichts mehr zum Auffüllen gab.
Damit trollte sich Frollein R., ausgehungert und abgemagert wie sie war, in die Kantine. Das tat sie sehr oft in letzter Zeit. Wir alle, vom Chef bis zur Putzkraft, taten das sehr oft. Grund dafür war eine junge Frau aus Ostdeutschland, die gleich nach der Grenzöffnung "rübergemacht" hatte, und nun die Kantine leitete, nachdem ihre Vorgängerin in Rente gegangen war. Was diese Frau mit den vorhandenen Mitteln an Brötchen, Schnittchen und Salaten in die Auslagen zauberte, hätte jeder Promi-Party Ehre gemacht. Und allein das zählte.
Sollte Goslar doch stinken, mir egal, dieses Buffet war es wert.
Außerdem hatte ich meinen Urlaub im geruchsneutralen Südfrankreich verbracht.
___Gewidmet der lieben DasManati, die ich hier als liebenswerten und sehr humorvollen Menschen kennengelernt habe, denn Humor war in dieser verrückten Zeit sehr wichtig. Es gab unzählige Situationen, die man mit einem Schmunzeln auf den Lippen am allerbesten meistern konnte.
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Typisch Ossi - typisch Wessi! Erinnerungen an eine getrennte Vergangenheit
ContoAuch heute hört man es noch: "Typisch Ossi - typisch Wessi." Obwohl der Mauerfall schon so lange her ist, halten sich die Vorurteile hartnäckig. Doch wer kann sagen, woher sie kommen? Eine kurze Geschichte zur deutschen Geschichte. Cover von der li...