Er setzt sich neben mich auf das mintgrüne Sofa, schließt die Augen und lehnt sich nach hinten. Sein Rücken sinkt in die ausgebleichten Polster.
"Ist alles in Ordnung?", frage ich.
"Eigentlich ist nicht alles in Ordnung." antwortet er. Wir kennen uns nicht gut, er kann nicht wissen, dass ich die Frage ernst meinte. Und doch antwortet er überraschenderweise ehrlich.
Eine kleine Beschwerde bahnt sich an. Er hat ein Rauschen im Ohr. Schon seit dem frühen Morgen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So lange habe ich gehofft, wir würden eines Tages zusammensitzen und reden, worüber auch immer. Ich habe mir ausgemalt, wie es sein würde, mit ihm über dies oder das zu reden. Tiefgründiges oder Oberflächliches. Wie es sein würde, sich anzufreunden, einen Freund zu finden. Doch heute ist der falsche Tag dafür. Ich kann ihn nicht einmal trösten. Seine Hand schlägt an sein Ohr.
"Geh nach Hause, du musst nicht hierbleiben, wenn es dir schlecht geht."
"Aber ich habe keine Schmerzen. Nichts tut mir weh, es ist nur dieses Gefühl..." wieder hält er seine Ohrmuschel.
"Du musst keine Schmerzen haben, damit es dir schlecht geht." Ich habe ihn nicht überzeugt.
"Ich werde nicht gehen." Er streckt sich und schaut mich leidend an, aus großen, lang umrahmten Augen. "Und dann hat mich auch noch diese Lehrerin dran genommen. Ausgerechnet heute. Ich konnte sie kaum hören. Das ist schon ungerecht."
Ich verstehe ihn zu gut und wünschte, heute wäre ein besserer Tag. Besser als der letzte fünfte Oktober ist er allemal, aber längst nicht schön. Wenn ein Tag sich wiederholt, verblasst die Erinnerung an das vorherige Mal. Das ist meine Hoffnung. Als sei jeder der 365 Tage im Jahr eine Flasche ohne Deckel. Der Inhalt verdunstet langsam mit der Zeit, mal schneller, mal langsamer, je nachdem was drin ist. Und nach einem Jahr wird sie mit einer neuen Flüssigkeit aufgefüllt.
Aber ein kleiner Rest bleibt immer drin. Ich werde es nie vergessen. Ein Jahr lang ziehe ich nun schon alleine meine Kreise, ohne Aussicht auf Besserung. Seit der letzten Woche spüre ich ein unterschwelliges Unbehagen. Wie ich wünschte, ich müsste nicht alle Flaschen neu füllen! Denn mit den Jahren und Tagen geraten auch du guten Zeiten in Vergessenheit. Zeiten von vor einem Jahr. Sie ging, ich blieb. Und er kam zur falschen Zeit..
"Woher soll sie wissen, wie es dir geht? Vielleicht war es ja gerecht."
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Poesie und Gedanken
PoesiaIn diesem Buch werde ich Poesie und Gedanken von mir vorstellen. Da mir meist eher zufällig Ideen kommen, werde ich wohl nicht regelmäßig updaten. Ich freue mich, wenn ihr es trotzdem lest.