Kapitel 1

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Manchmal hasste sie ihre Arbeit wirklich. Und heute war so ein Tag. Seit genau 98 Minuten saß sie nun schon in dieser kleinen heruntergekommenen Bar und bestellte einen Gin Tonic nach dem anderen. Nach dem vierten hatte der Barkeeper angefangen sie anzustarren, genauso, wie es wahrscheinlich dreiviertel seiner Gäste ihm gleichtaten. Zwar trug sie einen Teil ihrer Waffen ziemlich sichtbar am Körper und outete sich so als Jägerin, doch schien das die Anwesenden nicht zu stören. Wahrscheinlich ahnten sie, dass sie nicht hinter ihnen her war. 

Überhaupt sah man Zoe Haziz nur sehr selten in diesen Gegenden ihrer Heimatstadt New York. Die Rotlichtmeile des Vampirviertels war nun mal kein Ort für junge Frauen; Jägerin hin oder her. Sie hätte diesen Auftrag auch locker einem ihrer Kollegen auf's Auge drücken können, aber dazu war er zu persönlich. Einer von Illiums Vampiren war ausgebrochen. Er hätte nur noch zwei Tage gehabt. Nur noch 48 Stunden, bis der hundertjährige Vertrag im Dienste eines Engels vorüber war und für diese verhältnismäßig kurze Zeit, riskierte dieser Dummkopf alles. Verärgert über diese sinnlose Tat, schüttelte Zoe leicht den Kopf. Manchmal verstand sie die Unsterblichen wirklich nicht. Und Illium war noch nicht einmal ein Meister, bei dem sich Stunden wie Jahre anfühlten. Er ließ seinen Erschaffenen die größtmögliche Freiheit, verlangte so gut wie nie ihre Dienste. Deswegen wusste er wahrscheinlich auch noch nichts von dem Eidbrecher. So gesehen befand sich Zoe auf hauchdünnem Eis des Gesetztes. Denn dies war keine offizielle Jagd.

Es war mehr oder weniger ein Zufall gewesen, dass sie von dem Vorfall mitbekommen hatte. Eine Nachbarin des Vampirs hatte bei ihrer Mutter, der Gildedirektorin Sara Haziz angerufen und von einem größeren Tumult in der Wohnung nebenan berichtet. Da Zoe gerade sowieso nichts zu tun hatte, hatte sie sich angeboten hinzufahren. Die Gegend, in die sie geschickt wurde, war nicht gerade die beste. Aber sie wusste, dass man gerade deswegen hier zusammenhielt und aufeinander aufpasste, was auch den unverzüglichen Anruf der Nachbarin erklärte.

Doch als sie an dem grauen, schon halb zerfallenen Blockhaus ankam, spürte sie bereits an der Eingangstür, dass etwas nicht stimmte. Die Klingeln schienen alle nicht zu funktionieren oder waren erst gar nicht mehr vorhanden. Aber obwohl sie nichts erwartete, klopfte sie leise an die nur angelehnte Eingangstür. Es erschien ihr doch höflicher, als gleich einzubrechen. Indessen kam ihr nur eine gespenstige Stille entgegen, die ihre Sinne sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Ehe sie sich versah, lagen zwei lange Messer in ihrer Hand, ihre Schritte wurden leiser, ihre Bewegungen geschmeidiger. Ihr Jagdinstinkt war geweckt.

Auf Zehenspitzen schlich sie von Tür zu Tür, bis sie das kleine Namensschild entdeckt hatte, das sie zu dem Vampir führte, den sie suchte. Auch hier klopfte sie leise an, wobei die ebenfalls nur angelehnte Tür mit einem lauten Quietschen aufschwang. Verärgert darüber tauschte sie das Messer in ihrer rechten Hand gegen eine kleine Pistole aus und stieß mit einem Ruck die Tür ganz auf.

Sofort überfluteten sie die verschiedensten Gerüche, aber zwei waren ganz besonders stark. Der erste erinnerte sie an Weihnachten. Zimt, Vanille, frische Tannen und ein Hauch an Orange lagen in der Luft. Eindeutig ein Vampir. Der zweite war metallisch und kalt. Blut, zu viel Blut. Der Geruch war zu intensiv, zu schwer.

Als sie das Wohnzimmer betrat, verstand sie zuerst gar nicht, was sie dort sah. Ihr Gehirn wollte diese grauenhaften Bilder nicht zu einem Ganzen zusammenfügen. Das Blut war überall. Erst Sekunden später realisierte sie, dass die karmesinrote Flüssigkeit an der Wand keine Farbe war. Sämtliche Möbel waren umgestoßen worden. Die Spuren eines Kampfes hätten nicht deutlicher sein können. Auch war da immer ein monotones Tropfen zu hören. Zuerst vermutete sie, ein Wasserhahn sei nicht zugedreht worden. Aber sie musste feststellen, dass keiner der Hähne überhaupt zu funktionieren schien und doch blieb dieses beständige Geräusch.

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