Teil 4

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„Bist du eigentlich total übergeschnappt?", schrie Illium Zoe an, „du läufst einfach so, ohne Rückendeckung, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, zu einem Vampir im Blutrausch mit dem Wissen im Kopf, dass du sehr wahrscheinlich dabei draufgehen wirst! Das kann ich nur noch als dumm bezeichnen! Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten bei Gott genug Freunde begraben müssen. Hast du auch nur eine Sekunde an uns gedacht? An deine Mum und deinen Dad? An Elena? An mich?"

Doch egal wie viel er schrie, Stille war die Antwort. Absolute Totenstille. Sie hätte genauso gut tot sein können. Er hätte sein letztes Hemd dafür gegeben, dass noch einmal eine solch kecke Antwort aus ihrem Mund kam, wie es so oft der Fall gewesen war. So düster und grau war es in Illiums Herzen geworden. Nur der Blick auf ihre sich gleichmäßig hebende und senkende Brust und die Erinnerung an die Vergangenheit gaben ihm die Kraft weiterzumachen, nach vorne zu blicken und zu hoffen. Sie hätte nicht gewollt, wenn er sich von der Trauer erschlagen ließe und darin gefangen blieb. So viel wusste er.

Mit einem tiefen Schmerz in der Brust erinnerte er sich an den Tag, an dem er sie zum ersten Mal alleine persönlich getroffen hatte. Er hatte schon immer heimlich und im Stillen über sie gewacht ohne, dass es ihm bewusst gewesen war. Eigentlich hatte er sie gar nicht in diese Welt der Unsterblichen hineinziehen wollen, brach es ihm doch jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn er an seine erste große Liebe dachte. Doch wie immer war es anders gekommen. Zoe war mit Engeln groß geworden. Waren doch Elena und Raphael ihre Tante und ihr Onkel. Lange Zeit hatte sie dieses Privileg nicht verstanden, aber mit der Zeit, war auch die Erkenntnis gekommen. Und obwohl der Sire ihn immer wieder davor gewarnt hatte, hatte er es doch nicht lassen können, immer mal wieder bei ihr aufzutauchen. Er wusste um seine Schwäche für die Sterblichen, doch Zoe war für ihn schon immer eine Ausnahme gewesen. Sie war mit der Welt der Unsterblichen groß geworden. Sie kannte ihre Geheimnisse. Bei ihr konnte er keine Tabus brechen.

So war er vor guten 17 Jahren das erste Mal in der Abenddämmerung bei ihr am Fenster vorbeigeflogen und hatte dort auch angehalten. Ohne Angst und Schau war sie von ihrem Bett aufgesprungen, in dem sie sich mit einem Buch in der Hand eingerollt hatte und war zum Fenster gelaufen. „Hallo Glockenblümchen", hatte sie ihn sofort mit seinem Spitznamen aufgezogen, „lerne ich dich auch endlich mal persönlich kennen." Wie aufrichtig und ehrlich sie damals gelungen hatte. Ein Charakterzug, der bis heute geblieben war. Was sie sagte, das meinte sie auch so. Er hatte daraufhin nur geschmunzelt und sie ebenfalls mit einem lockeren Spruch aufgezogen. Erst viel später war ihr die Frage über die Lippen gekommen, die er schon damals in ihren Augen laß. „Warum hast du mich erst so spät besucht?" Er hatte damals keine Antwort darauf gewusst, war ihr ausgewichen und hatte die Frage in der Luft stehen lassen.

Doch heute kam sie ihm wieder in den Kopf und plötzlich wusste er auch die Antwort darauf. „Ich hatte Angst, Zoe", gestand er ihr nun, „ich hatte Angst mich neu zu verlieben." Er hatte es schon lange Zeit gewusst, aber sich nie eingestehen wollen, wurde ihm nun klar, als sein Herz ganz normal weiterschlug, wie als wäre nichts gewesen. Er liebte sie schon lange, fast ihr ganzes Leben lang. Die Liebe zu ihr, war mit ihrem Alter gewachsen. Aber er wusste um ihre Gefühle für ihn, wenn er sie nur ansah. Sie sah in ihm den großen Bruder, den Beschützer, den besten Freund. All das würde er auch immer für sie bleiben. Das hatte er sich schon geschworen, als er sah in welche Richtung ihre Gefühle gingen. Er würde für sie morden, für sie die ganze Welt niederbrennen. Doch der schicksalhafte Tag vor guten zwei Monaten hatte ihm gezeigt, dass da mehr sein musste, als Freundschaft. Denn auch sie war für ihn über Leichen gegangen.

Genau deswegen machte es ihn wahnsinnig, wenn er in sein Zimmer kam und sie dort auf seinem Bett liegen sah. Dabei war er sich sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so still gewesen war, wie jetzt. Er hatte schnell gemerkt, dass es ihr auf der Krankenstation nicht gefiel. Ihre Werte wurden immer schlechter und ihr Herz schlug immer langsamer. Deswegen hatte er Keir darum gebeten sie hierher, in sein Zimmer verlegen zu lassen und der Heiler hatte eingewilligt. Zu diesem Zeitpunkt gab es nichts mehr zu verlieren. Doch sie hatten gewonnen. Zoes Zustand hatte sich wieder stabilisiert und Illium und die anderen mussten sich nicht mehr jede Sekunde darum sorgen, dass sie in der nächsten tot sein könnte.

Seufzend schaute der blaugeflügelte Engel wieder auf sein Bett, doch die Sterbliche darin regte sich noch immer nicht. Er hatte alles versucht, sie aus dem Koma zu holen, aber nichts hatte geholfen. Nun gab er sich damit zufrieden, ihr jeden Tag das Neuste zu erzählen und einfach nur bei ihr zu sein. Denn er konnte und wollte es nicht akzeptiere, dass dies ein Zustand für immer sein sollte. Obwohl er durchaus merkte, wie Raphael und Keir ihn auf das Schlimmste vorbereiteten. Ihm waren die sanften Andeutungen nicht entgangen, die sie machten.

Ash und Janvier hatten sie gefunden. Nachdem sie nicht zum Abendessen bei Elena aufgetaucht war, das jede Woche stattfand, da Elena eine enge Bindung zu ihrer Garde und gelichzeitig besten Freunden als unerlässlich hielt, hatte man die Hälfte des Turmpersonals nach ihr suchen lassen. Dazu kam noch die gesamte Gilde. Illium und Raphael waren sofort zu der Wohnung geflogen, dessen Adresse sie von Sara bekommen hatten, hatten die Frau und ihre unfreiwillig Nachricht erhalten. Aber Zoe war nicht umsonst die beste Jägerin. Sie war schnell und effizient gewesen, sodass man sie erst nach zwei Stunden halb tot und blutverschmiert. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass sie überhaupt noch atmete und Illium wollte sich gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, wenn Evan Scott zwei Zentimeter weiter rechts zugestochen hätte oder wenn die Klinge verrutscht wäre.

Manchmal überkam ihn bei dem Gedanken sie für immer verloren zu haben solche Wut, dass er alles und jeden zusammenschrie und den Vampir Evan Scott am liebsten noch einmal getötet hätte und zwar auf viel schmerzhaftere Weise, wie es Zoe getan hatte. Evan sollte genauso einen Schmerz empfinden, wie er ihn nun empfand, obwohl man diesen schon gar nicht mehr in Worte fassen konnte.

„Wach auf", bat er sie nun schon zum zigtausendsten Mal.

„Wach auf", bat er sie nun schon zum zigtausendsten Mal

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