Kapitel 6

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"Sunny!", höre ich eine mir bekannte Stimme sagen. Aber sie ist so weit entfernt, dass ich ihr keinerlei Beachtung schenke. "Sunny!", versucht sie wieder in mein Gehirn zu dringen. "Sunny! Jetzt steh verdammt nochmal auf!" Aufstehen?

Ich öffne meine Augen und sehe in das sorgvolle Gesicht von Mandy, die mich ordentlich durchrüttelt. "Ist gut, ich bin ja wach", brumme ich immer noch halb am Schlafen. Ein Geräusch. Ein Blick. Eine hektische Berührung von Mandy. Sie reißt mich aus meinem Bett und zieht mir ein graues Shirt des Gefängnisses über. "Was zum?" "Psssscht. Einfach lächeln." Im selben Moment kommt ein Polizist  in unsere Zelle. Er mustert zunächst Mandy und dann mich. Was soll das? Ich schaue Mandy an, um irgendeine Antwort aus ihrem Gesicht lesen zu können. Aber nichts. "Fräulein, Sie kennen wohl nicht die Kontrollregeln." "Kontrollregeln?" "Sie wurden zwar erst neu hier eingeführt, aber dennoch muss jeder Häftling sie in und auswendig können. Kennen Sie sie oder nicht?" "Nein", murmle ich und schaue beschämt auf den Boden. "Miss Waston, würden Sie so freundlich sein und Miss Heartley die Regeln erklären?" Ich sehe im Augenwinkel wie Mandy nickt. Verkrampft steht sie da. Ihre Hände zittern, bis sie sie zu Fäusten ballt. Anspannung liegt in der Luft, ehe der Polizist wieder aus unserer Zelle verschwindet.

"Tut mir leid, ich hätte dir das sagen sollen." "Quatsch. Das ist nicht deine Schuld", sage ich und ich meine es auch so. "Wessen Schuld ist es denn dann?" "Ich hätte eher aufstehen können", schlage ich vor. "Du weißt, dass es meine Schuld ist." Ohne weiter darauf einzugehen suche ich in Gedanken verzweifelt ein anderes Thema, um ihr kein weiteres schlechtes Gewissen einzureden. "Ähm.. Wie war das? Konrtollregeln?" "Achja. Die Regeln..." Sie setzt sich an den Tisch und stützt ihren Kopf mit ihren Händen. "Erstens sei zu genannten Zeiten wach. Zweitens schaue den Polizisten an, wenn er mit dir redet, oder dir Gesellschaft leistet. Drittens trage stets die Kleidung, die für dich vorhergesehen ist. ´Viertens mische dich nicht in Angelegenheiten ein, die dich nichts angehen. Aber da war noch eine fünfte, ich weiß nur nicht welche." "Schon okay, danke." "Nein, ich komm nicht drauf." Sie beißt sich auf die Lippe und legt ihren Kopf schief. Ich glaube kaum, dass es ihr beim Denken helfen wird, aber es hat ja jeder so seine Angewohnheiten. Ich setze mich zu ihr an den Tisch. "Erzähl mir doch etwas über den Alltag hier." Ein frustriertes Lächeln umspielt ihre rosanen Lippen. "Also, morgens stehen wir um sieben Uhr auf und ziehen uns die Kleidung an, die sie uns, während wir geschlafen haben, in die Zelle gelegt haben. Danach haben wir noch etwas Freizeit bis zum Frühstück. In der freien Zeit können wir machen was wir wollen. Naja, innerhalb unserer Zellen jedenfalls. Alle treffen sich dann in einem Saal hier zum Frühstück. Es beginnt um halb neun und endet um halb zehn. Wer bis dahin noch nicht erschienen ist hat Pech gehabt und muss bis zum Mittagessen warten. Oh, und derjenige wird von zwei Polizisten besucht, die ihm seinen Tagesablauf überreichen, falls es unerwartete Änderungen geben sollte. Ansonsten wird beim Frühstück nur der Tagesablauf. Den Rest kriegst du ja dann beim Frühstück erklärt. Um zehn Uhr geht das Licht aus und wir sollen schlafen gehen. Das war's eigentlich." "Hört sich ja echt aufregend an", gebe ich augenrollend zurück. "Ja, ich weiß." "Tut mir leid, das sollte nicht so gemeint sein." "Schon gut." Sie setzt ein Grinsen auf und ich kann mir keine Vorstellung davon machen, was das bedeuten soll. "Freust du dich schon?" "Worauf?", ist sie jetzt völlig durchgeknallt? Ich bin in einer Zelle gefangen und soll mich auf etwas freuen? "Na auf das Frühstück. Da siehst du doch deinen hübschen Lover wieder." Ich werfe ihr einen böse Blick zu. "Was denn? Er ist doch wirklich hübsch"; sagt sie zu ihrer Verteidigung. Ja, aber er gehört mir, denke ich nur. Dabei habe ich gar kein Recht darauf so etwas zu denken. Er ist mein Ex. "Wie spät ist es?", ich kann die Wanduhr nicht sehen, da ich mit dem Rücken zu ihr sitze. Ihr Blick schweift nach oben und ihre Gesichtszüge verändern sich. Allerdings bin ich nicht gut im Deuten von etwas dergleichen. "Fünf nach acht." "Schon? Aber du meintest, dass wir um sieben Uhr aufgestanden wären und ich fühle mich gar nicht so, als wäre ich schon eine Stunde lang wach." "Warst du ja auch nicht. Ich habe gesagt, dass es normalerweise so hier ist. Aber wir haben verschlafen. Beziehungsweise du hast verschlafen, weil ich vergessen hatte es dir zu erzählen." Ihre Wangen werden rot und man kann ihr deutlich ansehen, dass es ihr unangenehm ist, dass sie es vergessen hatte. "Ist doch egal. Jetzt weiß ich es ja." "Aber zu spät!" "Hör doch damit auf! Das bringt doch nichts, wenn du dir die Schuld dafür gibst." Sie nimmt es anscheinend so hin, da ich keine weiteren Widerworte von ihr höre. "Was machen wir jetzt?", frage ich in die Stille hinein. "Möchtest du Tee? Oder möchtest du vielleicht Kaffee?" "Nein, danke." In ihrem Blick liegt eine Spur Traurigkeit. Ich hasse es, andere Leute zu enttäuschen, oder traurig zu machen. "Oder doch, ich möchte gerne einen Tee. Wärst du so lieb?" Ich lächle sie mit meinem liebenswürdigstem Lächeln an. Sofort fingen ihre Augen an zu strahlen und die Traurigkeit verschwand. Komisches Mädel. Ich gehe zu dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken und betrachte meine glanzlosen schwarzen Haare, die mir leblos auf die Schultern fallen. Ich bin blasser geworden, seitdem ich hier bin. Sogar meine Lippen sind rissiger geworden. "Bildest du dir jetzt auch Sachen ein?", lachte Mandy. Ein Fragezeichen steht mir ins Gesicht geschrieben. "Als ich das erste Mal vernünftig hier in den Spiegel geschaut habe, dachte ich ich hätte mindestens sieben Kilo zugenommen und das meine Haut über Nacht mindestens dreißig Jahre älter geworden." Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, als hätte sie daran zurückdenken müssen. "Also sind meine Lippen gar nicht rissiger geworden? Und meine Haare glänzen immer noch? Bin ich blass, Mandy?" Sie verdrehte die Augen und antwortete: "Nein, du bist so hübsch wie immer, Sunny." Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, auch wenn ich meinen neuen Spitznamen nicht mag und mich noch nicht an ihn gewöhnt habe. "Danke." Ich schaue wieder in den Spiegel und rede mir ein, dass das nicht real ist. Das ich genauso aussehe, wie vorher. Aber ich fühle mich nun mal hässlich und dieses Gefühl lässt sich nicht so leicht verdrängen, wenn es erst einmal gekommen ist. "Haben wir hier auch eine Bürste? Ich meine, ich kann mir wohl schlecht mit den Zahnbürsten, die auf dem Waschbecken stehen, meine Haare kämmen." "Guck mal in den Schrank unter dem Waschbecken nach." Gesagt, getan. Tatsächlich befinden sich dort Bürsten, etwas Schminke, Handtücher, und Putzzeug. Ich flechte mir einen Zopf und schminke mich leicht. Eigentlich finde ich es unnötig sich zu schminken, aber vielleicht hilft es mir ja heute mich nicht so hässlich zu fühlen. Und tatsächlich. Mit einem Lip balm wirken meine Lippen schon weniger rissig und mit etwas Puder, lässt sich mein bleiches Gesicht retuschieren. Mascara darf auch nicht fehlen, es betont meine Haare und lässt sie wieder etwas glänzen, obwohl ich nichts mit ihnen gemacht habe. Jetzt bin ich bereit den Tag zu beginnen. Ich drehe mich um und genieße den Tee, den mir Mandy in die Hand gedrückt hat. "Noch zehn Minuten, dann können wir gehen", sagt sie leise. Ich werde nervös und fange an zu zittern, obwohl es Spätsommer ist. "Wer wird alles dort sein." "Andere Häftlinge und ein paar Polizisten. Ansonsten vielleicht noch ein Psychologe für Chase und die Köchin." "Chase?" "Lange Geschichte. Du wirst schon sehen. Aber glaub mir, es wird halb so schlimm. Ich bin ja bei dir." Ich lache sarkastisch, schenke ihr aber trotzdem ein dankbares Lächeln.

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