6. Von einem Rucksack voller Wahrheit und dem Sommer des Lebens

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Mein Kopf lehnte an der Scheibe des Busses und wurde von den fehlenden Stoßdämpfern ungefähr dreihundertsiebenundzwanzig mal pro Minute gegen sie gehämmert. In den Filmen lehnen die Leute immer lässig mit dem Kopf an den Scheiben und es schaut richtig gut nachdenklich und melancholisch aus, besonders wenn es dann außen noch regnet. In Echt ist es scheiße. Mein Kopf bestand nur noch aus Vibrationen. Aber jetzt hatte ich schon damit angefangen und ich mich überkam das Gefühl, der Oma, die mir gegenübersaß und mich kritisch musterte, etwas beweisen zu müssen. Während die Regentropfen mit dramaturgischem Eifer einen Zentimeter neben meinem Gesicht entlang glitten und die im Schein der untergehenden Sonne glühende Stadt in Schemen zeichnete, wunderte ich mich, dass alles so reibungslos geklappt hatte.
Das war nämlich so: Sophie ist ein Computergenie. Oder genauer gesagt sie kennt Leute, die Leute kennen, die Leute kennen, die Leute kennen, die sich mit Computern auskennen. Aber ich finde, das kann man der Einfachheit halber unter den Tisch fallen lassen. So wie man ein Stück Brokkoli unter den Tisch fallen lässt, wenn es ihm zum Essen gibt. Brokkoli ist einfach widerlich.
Jedenfalls haben die es irgendwie geschafft, damals meinen Namen in der Anmeldeliste für die neue Schule in Bob Bobson zu ändern und jetzt haben sie mir einen Auslandsschulplatz irgendwo in England besorgt. Also nicht wirklich, aber so, dass es die Schule hier, meine Eltern und sogar der Arzt geglaubt hat. Das war richtig professionell, die haben sogar eine Homepage erstellt und einen Wikipediaartikel geschrieben. Und ich hab' schnell noch ein paar gutefrage.de-Fragen über die Schule verfasst und sie mir dann selber ausführlich beantwortet. Zum Beispiel:

Frage: Wie sehen denn die Gemeinschaftsräume dort aus?
Antwort: Also es gibt insgesamt vier. Unserer z.B. ist sehr gemütlich mit vielen Sofas und wir haben sogar einen offenen Ofen. An der Tür außen hängt ein Bild mit einer dicken Frau.

oder:

Frage: Wie läuft der erste Schultag so ab?
Antwort: Erst fahren wir mit einem Boot über unseren schuleigenen Schulsee und am Abend hält unser Direktor immer eine charismatische Ansprache und klatscht dann in die Hände, woraufhin es unglaublich viel geiles Essen gibt.

oder (und darauf bin ich besonders stolz, weil ich finde, das kann eigentlich nur ein echter Schüler aus England wissen):

Frage: Stimmt es, dass an dieser Schule gar kein Mathematik unterrichtet wird?
Antwort: Ja.

Zugegeben, meine Recherche über Schulen in England beschränkt sich stark auf gewisse belletristische Romane, aber so sehr wird sich das schon nicht von der Wirklichkeit unterscheiden.
Jedenfalls haben das mit der Schule alle geschluckt und Sophie hält mir daheim den Rücken frei, wenn irgendwas ist. So habe ich mir und Alice ein paar Monate ergaunert, in denen wir ihrem Plan nachgehen können. Worin der auch immer besteht.
Mit quietschenden Türen - quasi dem Pendant eines Busses zu den quietschenden Reifen eines Rennautos - hielten wir an und ein gewaltiger Rucksack, der sich Alice vorne dran geschnallt hatte, stieg ein. Nachdem der Rucksack sich neben die unglückliche dreinblickende Oma von gegenüber gequetscht hatte, ließ sich Alice mit einem Schnaufen neben mich fallen.

»Du bist wirklich gekommen, Ben.«

Alice durfte Ben sagen. So wie sie es sagte, klang es wie Musik in meinen Ohren.

»Mach mal die Kopfhörer raus, du verstehst mich doch gar nicht.«

»Hm?«

Mit gespielter Verärgerung boxte sie mich gegen die Brust und ich wickelte die Kopfhörer in dem Versuch zusammen, dieses mal zufällig auf eine Wickeltechnik zu stoßen, bei der danach keine Knoten im Kabel sind.

»Was haben deine Eltern gesagt?«, erkundigte sich Alice während sie stirnrunzelnd auf mein kompliziertes Rumgewickel blickte.

»Dass sie mich nicht zum Flughafen begleiten sollen? Eigentlich gar nicht so viel, ich hab' gesagt, dass ich alt genug bin und mir das peinlich wäre. Außerdem kommt ja Sophie mit.«

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