Kapitel 1 - Ventura

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Ich sah die ganze Welt unter mir, in all ihren Farben und Formen. Ich blickte hinab in die idyllische und harmonische Landschaft, als gäbe es nichts Schöneres. Vielleicht war das wirklich so.
Ich stand auf dem Gletscher und konnte ganz Memoria sehen. Der Ozean schimmerte in dem gleissenden Licht der Sonne und das Grün des Waldes leuchtete in allen erdenklichen Nuancen.
Ich war so abgelenkt von der Pracht der Natur, ich merkte gar nicht, dass Fukano bellte. Ich hörte erst beim neunten oder zehnten Mal hin.
"Kan!", rief ich laut. Doch auf dem Gletscher war keine Spur von ihm. Aber er bellte immer noch.
"Kan! Wo steckst du?"
Ein sanftes Beben erschütterte die Erde und ich bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Wo steckte bloss Fukano? Ein leuchtend oranges Feuerhündchen konnte doch nicht an einem schneeweissen Ort verloren gehen!
Ich hörte das Bellen nochmals. Dann bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Dass irgendwas überhaupt nicht stimmte.
Ich wollte wegrennen, wirklich. Aber meine Füsse schienen auf dem Gletschereis zu kleben, die Kälte frass sich wie tausend kleine Monster bis auf meine Knochen. Ich zitterte. Und ich holte Luft für einen Hilferuf, aber da war es bereits zu spät.
Das Eis glitt unter mir hinweg und ich fiel hin, direkt in den kalten Schnee, wo ich von der beängstigenden Kraft des Gletschers ausgesetzt war, der wie eine todbringende Welle über mir zusammenbrach.

Mit einem leisen Aufschrei erwachte ich und wäre sogleich aus der Hängematte gepurzelt, hätte ich mich nicht im letzten Moment auf die andere Seite gelehnt. Die glitzernde Morgensonne erhellte mein kleines Zimmer und liess die holzige Kommode und den Flechtteppich gleich viel schöner aussehen, als sie wirklich waren. Mal abgesehen von meiner Hängematte stand nämlich nur noch diese Kommode in meinem Zimmer drin.
Fukano sass wie ein Soldat auf dem Holzboden. Das Kinn hochgereckt und mit einem abenteuerlustigen Funkeln in den Augen. Er kläffte.
Ich stöhne: "Kan. Was ist denn? Ich will noch nicht aufstehen."
Ehe Fukano erneut bellen konnte, schallte die Stimme meines Vaters wie ein Eisenhammer durch die Hütte: "Jack! Mach, dass du auf der Stelle herkommst!"
Verdammt, dachte ich. Fukano hatte mir nur helfen wollen. Beinahe ganz Ventura wusste, dass mit Dad nicht gut Kirschen essen war. Besonders nicht, wenn ich ihm eigentlich auf dem Feld helfen sollte, aber noch nicht mal aufgestanden war. Ich war geliefert. So schnell wie nur möglich stürmte ich also aus meinem Zimmer, wobei mir Fukano schwänzelnd folgte.

Im Gegensatz zum Gletscher, von dem ich geträumt hatte, war es in Ventura angenehm warm. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und bald würden sich die ersten Blätter färben und von den Bäumen rieseln. Die ersten Vögel würden sich auf den Weg in den Süden machen und dann würde der eisig kalte Winter anbrechen, in dem ich mit Mum und Dad vor dem kleinen Kamin sässe und gemeinsam mit ihnen Tee tränke und getrocknete Früchte ässe. Auch wenn wir keinen besonders hohen Stand in der Gesellschaft hatten und sehr nah an der Armut lebten, gab es trotzdem Leute, die waren schlimmer dran als wir. Immerhin hatten wir fast immer genug Nahrung gehabt.
Dad, Sichlor, Fukano und ich gingen gemeinsam den Weg durchs Dorf zum Weizenfeld. Mein Vater baute seit er denken konnte Weizen und Kartoffeln an, diesen Job würde ich eines Tages auch übernehmen müssen. Sein Sichlor half ihm immer tatkräftig bei der Ernte. Ich meistens ja auch, aber ein Sichlor erledigte diese Sache wesentlich präziser als ich.
Da ich Tag für Tag eigentlich nichts anderes tat, als zu arbeiten (obwohl ich bereits vierzehn Jahre alt war) und mir keine Bildung leisten konnte, müsste man meinen, mein Leben sei beschissen und eintönig.
Das war es ja irgendwie auch, aber ich mochte mein Leben. Wir mussten nur selten hungern und mir war sogar einen Job auf sicher. Ich hatte eine grossherzige Mutter, einen strengen aber auch liebevollen Vater und Kan, mein Fukano. Eigentlich wollte ich gar nicht mehr, als das, was ich schon hatte. Ich war total zufrieden.
Also entfernte ich den ganzen Tag die Weizenkörner aus den abgetrennten Halmen, sammelte sie in einem Korb und machte mir keine Gedanken darüber, dass sich mein Leben urplötzlich um hundertachtzig Grad wenden könnte.

19.11.16

Golden Fire - Eine Pokémon FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt