Kapitel 9 - Flucht aus Kerbeo

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Jemand riss an meinem Rucksack. Ich versuchte, ihn festzuhalten, doch mein Gegner war weitaus stärker als ich. Ich hörte, wie Julius etwas rief und augenblicklich wurde mein Rucksack losgelassen. Ich zögerte nicht und rappelte mich auf die Beine.
Vor uns kauerte ein Mann. Seine Figur mager, das Gesicht von einer abartigen Krankheit zerfressen und im Blick den puren Wahnsinn. Allem Anschein nach wurde er von einer Pokémonattacke getroffen, denn sein Hemd war aufgerissen und eine blutige Spur zog sich quer über seinen Bauch.
Er röchelte und stammelte unverständliche Worte. Ich konnte nur dastehen und ihn anstarren, während sich aus den Schatten mehrere Gestalten lösten. Sie gingen gebückt, funkelnde Rattfratzaugen und aufblitzende Zubatzähne hinter ihnen.
Von ihnen ging ein ungeheuerlicher Gestank aus. Sie waren allesamt spindeldürr und totenbleich.
"Eure Sachen und euer Geld", knurrte einer von ihnen. "Sofort."
Beim Klang dieser leblosen Stimme lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Kan bellte aufgebracht.
Gallopa schnaubte. Mirja knurrte.
Und dann geschah alles gleichzeitig.
Die düsteren Pokémon stürzten vor und Fukano schleuderte ihnen eine Flammenbrunst entgegen, Julius schob mich zu Gallopa und ich kletterte hinauf und hielt mich am Sattel fest.
Die Strassenmenschen riefen empört aus. Sie fuchtelten wild mit den Armen, schrien und klagten und Julius hüpfte hinter mir auf das Pokémon und gab ihm einen Klaps.
Gallopa bäumte sich auf und ich japste erschrocken auf. Ich wäre beinahe runtergefallen.
Gallopa galoppierte los. Seine Hufe schlugen hart und rhythmisch auf dem Pflasterstein auf und ich spürte den Wind im Gesicht, das Adrenalin in meinem Adern, das wilde Klopfen meines Herzens.
"Kan!", rief ich. "Kan, hierher!"
Doch ich hätte gar nicht zu rufen gebraucht. Fukano und Absol preschten bereits hinter Gallopa her, im Hintergrund die frustrierten Schreie der Diebe.

Wir ritten aus der Stadt. Es war so irre, dass ich es kaum glauben konnte. Alle noch wachen Menschen starrten uns an und ich lächelte jedes Mal.
Ich war jemand. Ich war kein unbedeutender Bauernjunge. Ich war genauso wertvoll wie die anderen auch. Und jeder, der etwas anderes behauptete, belog sich selbst.
Wir drosselten das Tempo, als wir die mächtigen Stadtmauern hinter uns gelassen hatten und wieder in die dunklen Tiefen des Waldes eintauchten.
"Woher wissen wir, wo die Küste ist? Wir werden uns verlaufen!", sagte ich.
"Ich hab doch 'nen Kompass", meinte Julius. "Immer nach Westen."
Und wir ritten nach Westen. Ungefähr bis Mitternacht, denn dann war Gallopa erschöpft, Julius schlief fast ein und ich war nur noch am rummaulen. Ich hüllte mich in meine Wolldecke und lauschte auf das Rascheln von Blättern in der Stille. Während ich mir überlegte, ob ich heute wirklich für einen guten Tag in der Hauptstadt gewesen war, dämmerte ich langsam weg und versank in kalten Träumen.

Ich träumte wieder von Gletschern und Wasser. Von den eisigen Stürmen im Winter, und aus dem weissen Schnee krochen verunstaltete Gestalten. Sie griffen nach meinen Knöcheln und wollten mich umwerfen, wobei ich ich sie panisch abzuschütteln versuchte.
Ich fror und schwitzte gleichzeitig, ich rief um Hilfe.
Allerdings erhielt ich keine.

Julius weckte mich, sobald die Morgensonne die ersten Strahlen durch das dichte Blätterdach warf. Ich blinzelte und schielte zu Kan hinüber, der mit Mirja herumtollte und freudige Kläffer von sich gab.
Er schien so glücklich und zufrieden. Warum fühlte ich mich dann derart grauenhaft?
Wir assen ein paar Beeren zum Frühstück und fütterten unsere Pokémon. Julius erklärte mir, er hätte tatsächlich eine Unapila für Gallopa. Sein Vater hätte das Pokémon einst eingefangen und nun hatte er ja schlicht und einfach die Unapila aus seines Vaters Büros geklaut.
Eine Unapila war eine kupferne Kapsel, die durch irgendein spezielles Material dazu in der Lage war, Pokémon in sich aufzunehmen. Allerdings waren diese sehr teuer und nachdem man eine erfolgslos verbraucht hatte, war sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Ein Pokémon musste nämlich erst mit einer gefangen werden, und dies bedarf Glück und man musste das Vertrauen des jeweiligen Pokémon gewonnen haben.

Es war kaum zu glauben, aber in geschwinden Galopp legten wir extreme Strecken hinter uns zurück und preschten durch den Wald und über Felder. Gallopa war ausdauernd und freute sich sogar über die ausgiebige Bewegungsmöglichkeit.
Die Nächte waren kalt, erfüllt von fernem Noctuh Geheul, die Tage eintönig, jedoch auf eine gute Art und Weise.

Am vierten Tag unserer Reise begannen wir den Aufstieg an einem Hügel. Er war wirklich klein, denn innerhalb einer Stunde waren wir auf seinem kahlen Höhepunkt angelangt und hatten freie Sicht auf den uns umgebenden Wald. Grün wohin das Auge sah, in allen Nuancen. Und über uns der strahlblaue Himmel, geziert mit milchig weissen Wolken.
"Wir sind bald da", verkündete Julius.
"Wieso weisst du das?"
"Ich war auch schon in Armeria. Ausserdem sehe ich das Meer."
Er hatte recht. Auch ich sah nun den tiefblauen Streifen Ozean, der sich am Horizont hinter all dem Grün verbarg. Er schimmerte ein wenig im Sonnenlicht, mysteriös und kalt, und ich fragte mich, welche Geheimnisse er in seinen Tiefen barg.

(Tut mir leid, dass in letzter Zeit so wenig kommt. Sobald wieder Ferien sind, werde ich auch wieder mehr zum Schreiben kommen :3)

Golden Fire - Eine Pokémon FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt