19 - Ein unerwünschter Gast

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Etwas nervös strich Hermine über den samtenen Stoff ihres langen Kleides, welches ihre Schultern frei ließ und sich perfekt dem Licht anpasste. Das Oberteil war von einem so hellen Ton, dass es fast weiß wirkte. Viele kleine Steine waren in den edlen Stoff eingewoben, ehe es in einen zartrosanen wallenden Rock überging, der bis auf den Boden ging. Sie hatte das Kleid in den Sommerferien in einem Muggelladen gesehen gehabt, und da sie zu dem Zeitpunkt noch kein einziges Abendkleid besessen hatte, hatte sie es gekauft, um auf Gelegenheiten wie diese vorbereitet zu sein. Und der Kauf zahlte sich aus. Sie hatte schon viele Komplimente über ihr Kleid bekommen, ebenso wie erstaunte Blicke, die sich wunderten, die prüde Streberin so viel Haut zeigen zu sehen.

Sie befand sich auf einer Weihnachtsfeier, die Slughorn gab. Er hatte sie am Abend des Abendessens bekannt gegeben, sie hatte nur nicht damit gerechnet, eingeladen zu werden. Immerhin hatte sie in der Gesellschaft durch ihren Blutstatus keinen besonders hohen Rang, und bei dieser Veranstaltung ging es eindeutig um die Gesellschaft. Oder wohl eher darum, nützliche Kontakte zu knüpfen. 

Der Raum war mit grünen Girlanden geschmückt, ein Buffet stand bereit und Kellner gingen mit ihren schwarzen Tabletts herum und boten Häppchen und Alkohol an, den Hermine noch nicht identifizieren hatte können. Hauptsächlich waren Schüler dabei, die sie vom Abendessen kannte, doch es waren auch noch ein paar andere neue Gesichter hinzu gekommen. Sogar Neville hatte sie entdeckt. Allerdings unter den Kellnern. 

Sie war froh über die Ablenkung, die sich ihr bot, auch wenn sie wusste, dass sie es sich nicht erlauben konnte, abgelenkt zu werden. Ihr Plan war zu wichtig. Die Wende zwischen Draco und ihr hatte sie nicht vorausgesehen. Er hatte sie gehasst und verachtet. Dann hatte er sie geküsst. Und dann hatte er sich Nacht für Nacht, Stunde für Stunde, neben sie in den Gang gesetzt und mit ihr in die Schatten gestarrt. Was war bloß los mit ihm? Er konnte das nicht tun, das war einfach nicht möglich! Es hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt, und sie hatte keine Zeit zum Überlegen gehabt, als er sie im Gang geküsst hatte. 

Das war vermutlich der Auslöser gewesen. Er bekriegte sie nicht mehr und das hieß, dass sie einen gewaltigen Schritt vorwärts getan hatte. Ihr Plan war aufgegangen, und genau das hatte sie auch erreichen wollen. Jetzt musste sie ihn nur noch dazu bringen, sich ihr gegenüber zu öffnen, ihr seine Geheimnisse und Pläne zu erzählen. Natürlich nutzte sie ihn aus, und sie hatte auch keinen Spaß dabei. Sie hasste Draco. Er war eine Person, die sie niemals hatte sein wollen, auch wenn gerade er sie dazu gebracht hatte, zur Verräterin zu werden. 

Doch trotzdem hatte er sie überrumpelt. Sie konnte es nicht leiden, nicht zu wissen, was in ihm vorging, wo sie standen. Sie empfand nichts für ihn, nein, aber er hatte trotzdem die Macht, sie durcheinander zu bringen. Und mit ihm im selben Turm zu wohnen, machte es nicht leichter. Hermine straffte die Schultern. Trotz all ihrer verwirrenden Gedankengänge durfte sie sich nicht vom Weg abbringen lassen. Es fehlte nicht mehr viel, dann hätte sie das rettende Ufer erreicht. Sie musste nur noch die letzten paar Meter durchhalten, am Horizont konnte sie bereits das Festland sehen.

,,Hermine", wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie drehte sich um und sah Harry, der ihr gegenüber stand. ,,Hast du Ginny gesehen? Ich glaube, sie war auch eingeladen." Sie zuckte die Schultern. Die Rothaarige hatte sie schon seit Slughorns Abendessen nicht mehr gesehen. ,,Nein, tut mir Leid. Aber Harry", hielt sie ihn auf, als er wieder weiter wollte. ,,Ihr geht es im Moment nicht gut. Lass ihr Zeit." Ihre roten Augen beim Abendessen hatten Bände gesprochen. Und die Erzählungen der Mädchen in ihrem Schlafsaal trugen nicht gerade dazu bei, dass man glaubte, ihr gehe es gut. Anscheinend hatte sie Beziehungsstress mit Dean, sie stritten sich angeblich wegen jeder Kleinigkeit.

Harry blieb stehen und ließ die Schultern hängen. ,,Ja, ich weiß", antwortete er. ,,Es ist nur... Ich will für sie da sein. Als Freund." Sie nickte verständnisvoll. ,,Ja, das wäre gut. Hast du Ron gesehen?" Er hatte ein wenig geknickt gewirkt, als Harry und sie Einladungen zur Weihnachtsfeier bekommen hatten und er nicht. Sie hätte ihn als ihre Begleitung mitnehmen könne, doch er beschäftigte sich ja viel lieber mit Lavender. Allein schon beim Gedanken daran, wie sie ihm die Zunge in den Hals steckte, wurde ihr schlecht, so dass sie ein Häppchen ablehnte, welches ihr ein Kellner anbot. ,,Der ist wahrscheinlich im Turm und schmollt vor sich hin. Oder..." Er stoppte schnell. ,,Schon gut, du kannst den Satz beenden."

Harry schluckte. ,,Oder er ist bei Lavender." Er sprach nicht weiter, machte aber auch keine Anstalten, Ginny suchen zu gehen. ,,Was ist eigentlich mit Slughorn? Hast du ihm schon die Erinnerung abnehmen können?", schlug sie ein anderes Thema an, da das andere unbehaglich geworden war. Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. ,,Nein, leider nicht. Ich habe es nach dem Abendessen noch einmal versucht, aber er hat mich hochkant rausgeschmissen. Dumbledore meint, ich solle ihm näher kommen. Dazu gehört wohl auch, auf seine Partys zu gehen und immer zu lächeln." 

,,Und gute Noten zu schreiben", fügte sie als Anspielung auf seinen Betrug hinzu. ,,Dein neues Zaubertränke-Buch müsste inzwischen geliefert worden sein. Jetzt hast du keine Ausrede mehr dafür, dieses alte gammlige Buch zu benutzen." Sie lächelte und hob dabei eine Augenbraue. Doch zu ihrem erstaunen lächelte Harry noch breiter. ,,Ich habe das neue gegen das alte getauscht. Jetzt sieht das Alte so aus wie das Neue und das Neue so wie das Alte. Ich bin wohl aus dem Schneider." Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr gegenüber jemand besserwisserisch war und durch Betrug höhere Leistungen erbrachte als sie. ,,Ehrlich, Harry, das ist nicht Regeltreu. Ich bin Schulsprecherin, es wäre eigentlich meine Pflicht, diesen Betrug zu melden. Du erschummelt dir gute Noten damit. Und das Buch an sich wirkt auch nicht gerade seriös. Dort stehen Sachen drin, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Und wer ist überhaupt der Halbblutprinz?" 

Zusätzlich zu Rons Erzählungen über das Buch hatte sie in vielen Zaubertrank-Stunden auf die Seiten geschaut, die mit schwarzer Tinte vollgekritzelt waren mit Dingen, die sie noch nie gehört, gesehen oder gelesen hatte. Bei einigen war sie sich sogar sicher, dass es Zaubersprüche waren, auch wenn ihr unklar war, warum diese zum Tränkebrauen benutzt werden sollten. Jedenfalls hatte Slughorn ihnen bisher keinen von diesen Sprüchen genannt. Im Einband stand der Name des früheren Besitzers. Oder wohl eher der Deckname, den niemand nannte sein Kind ,,Halbblutprinz".

Harry zuckte mit den Schultern. ,,Keine Ahnung. Ehrlich, Hermine, ich weiß es nicht", fügte er noch hinzu, als er ihren forschen Blick bemerkte. ,,Aber es ist auch nicht weiter wichtig. Es schadet niemandem und hilft mir weiter." Hermine legte den Kopf schief, doch bevor sie etwas sagen konnte, entstand eine kleine Unruhe.

Filch, der unbeliebte Hausmeister, schleppte fluchend einen blonden Schüler mit sich. ,,Da", sagte er verachtend, ,,dieser Schüler wollte sich gerade eben rein schleichen!" Er zeigte mit dem Finger auf ihn. Erschrocken erkannte sie, um wen es sich handelte. ,,Ich wollte mich nicht rein schleichen, sie erbärmlicher Squib!", erwiderte Draco und ordnete seine Sachen, die ein wenig zerknittert aussahen. ,,So und was wolltest du denn dann? Du konntest mir keine Einladung vorweisen, du..." Weiter kam er nicht, da Slughorn ihn unterbrach. ,,Argus, aber bitte! Wir werden doch niemandem die Weihnachtsstimmung verderben. Mister Malfoy, sie sind herzlich willkommen!" Er prostete ihm mit seinem Glas zu.

Auf einmal trat Snape vor, der streng auf ihn hinab sah, obwohl Draco fast so groß wie er war. ,,Ich werde mich um Mister Malfoy kümmern und ihn heraus geleiten." Draco scheute sich nicht davor, dem düster wirkenden Mann, der mit seinen fettigen dunklen Haaren und dem pechschwarzen Umhang aussah wie eine Fledermaus, herausfordernd in die Augen zu sehen. Da war sie wieder. Die hochnäsige Seite. Die verachtende, selbstverliebte Seite an ihm, die sie schon immer gehasst hatte. Anscheinend hatte er sich doch nicht so geändert, wie sie gedacht hatte. 

,,Severus, seien sie nicht so streng mit ihm!", warf Slughorn gutmütig ein, doch Snape hörte nicht auf ihn und verließ mit Draco den Raum.

Entschuldigt die Verspätung, an Silvester hat man eben viel zu tun. Happy New Year!

Schatten der Nacht - Teil 1: EntdecktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt