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22.September 1916

Die ganze Nacht ist Harry geplagt von seinen Gedanken, seinen Fantasien. Er träumt von einer Frau mit eisblauen Augen und rabenschwarzem Haar, blasser Haut und einem fleischigen Körper. Wann auch immer seine Augenlider schließt, um sich der Dunkelheit hinzugeben und den Schlaf zu bekommen, den er sich verdient, taucht das Bild von Elise in seinen Gedanken auf.

Ein einziges Mal schafft es der Mann, die Gestalt, die in seinem Kopf herumgeistern, zu ignorieren und schläft ein. Sein Traum ist geprägt von einem begehrenswerten Körper, den er hochhebt, nur um ihn wenig später auf ein Bett fallen zu lassen. Schließlich schreckt Harry aus dem Schlaf und setzt sich senkrecht auf der Matratze, auf der er liegt, auf. Bevor seine Fantasie mit ihm durchgeht.

Nicht einmal das Schreiben in sein Tagebuch, das er nicht so nennen will, hilft ihm. Sein kleines – wie er es nennt – „Buch voller Gedanken" besitzt nun drei Seiten voller Gedanken über eine bestimme Frau, über die er nicht so denken darf, wie er es macht.

Dementsprechend schwer ist es auch für Harry am Morgen aus dem Bett aufzustehen, als Elise an seiner Tür geklopft hat mit den Worten „Guten Morgen! Ich habe Frühstück gemacht". Er reibt sich gestresst mit beiden Händen über sein Gesicht, streicht die Strähnen, die ihn auf der Stirn kitzeln, nach hinten. Als würde er verzögern wollen, dass er ihr in ihre eisblauen Augen sieht, setzt der Mann sich in Zeitlupe auf und rutscht an den Bettrand. Seine nackten Füße kommen in Berührung mit dem kühlen, hölzernen Boden, sobald er bereit ist, aufzustehen.

Ein undefinierbarer Laut kommt aus seinem Mund, als Harry beide Arme über seinen Kopf hebt und sich ausgiebig streckt. Er formt ein Hohlkreuz, während er seinen Rücken dehnt und schließt zufrieden seine Augen. Keine Schmerzen quälen ihn, so, wie sie es an der Front getan haben. Sein Nacken schmerzt nicht mehr so sehr, dass er seinen Kopf nicht mehr drehen kann, die weiche Matratze ist wie ein Segen für ihn. Selbst, wenn er auf dieser keinen erholsamen Schlaf bekommen hat.

„Harry? Geht es dir gut?", hört der Mann wieder ihre Stimme durch die Holztür, sein Gesicht wendet sich schlagartig diesem zu. Schnell nickt er, bevor er bemerkt, dass Elise ihn gar nicht sehen kann – was auch gut so ist. Sonst hätte sie ihn schon wieder halbnackt angeschaut.

„Alles ok. Ich komme gleich.", ruft Harry und greift nach dem Hemd auf dem Sessel, der direkt links neben dem Bett steht. Er knöpft sich in Windeseile das Kleidungsstück zu, lässt gezwungenerweise die obersten drei Knöpfe zu, damit Elise diese nicht wieder annähen muss, weil er sie abgerissen hat. Im Gehen steigt er in die Hosenbeine und zieht anschließend den Stoff hoch zu seiner Hüfte.

Er reißt die Tür auf, direkt vor ihm steht die Frau, die ihm sämtlichen Schlaf geraubt hat. Diese Augen, die aus Eis bestehen zu scheinen, blicken ihn freundlich an, auch das Funkeln in ihnen ist vorhanden. Ihre Lippen sind zu einem sanften Lächeln verzogen und mit verschränkten Armen verdeckt sie ihren Bauch. „Na endlich. Guten Morgen, Harry.", begrüßt Elise und tritt einen Schritt zurück, damit Harry das Zimmer verlassen kann.

„Hast du gut geschlafen?" fragt sie ihn und deutet ihm stumm, ihr zu folgen. Die zwei Menschen gehen den Gang entlang, nebeneinander, beide Augenpaare auf den Boden vor sich gerichtet. Harry nickt und antwortet leise: „Sehr gut, danke."

Dass dies der Wahrheit nicht entspricht, muss die Frau ja nicht wissen.

Sie kommen in der Küche an, der Tisch ist gedeckt und gefüllt mit diversen Tellern, auf denen sich Essen befindet. „Ich war einkaufen, als du noch geschlafen hast. Nimm dir einfach alles, was du willst.", lässt Elise ihn wissen und breitet ihre Arme ausladend aus. Ihr Gesicht wendet sich dem Mann neben ihr zu und sie fügt hinzu: „Außerdem habe ich dann noch etwas für dich."

„Danke!", murmelt Harry und legt eine Hand auf ihre linke, von einem dünnen Stoff bedeckte Schulter. Zeitgleich spürt sie die Wärme, die von seiner Haut ausgeht und sich langsam in ihr ausbreitet, jedoch viel zu schwach, als die Berührung von ihm beendet wird, weil er auf den Tisch zugeht.

„Du brauchst mir nicht andauernd zu danken, Harry.", kichert Elise, überspielt die Tatsache, dass sie seine Wärme viel zu deutlich gespürt hat und nicht wollte, dass die Berührung endet. Sie sieht ihm zu, wie er sich auf einen Stuhl setzt und den leeren Teller vor sich mit Essen füllt. Seine Augen werden ein klein wenig größer und er schluckt schwer beim Anblick von so viel Nahrung vor sich. Auch sie bewegt sich langsam auf den Tisch zu, nimmt Platz auf dem Sessel gegenüber von ihm. Die Frau stützt sich mit beiden Ellbögen auf der Holzplatte ab und legt ihren Kopf in ihren Händen ab.

„Du isst nicht?", fragt der Soldat sie, noch bevor er sich auf das Essen stürzen kann und seinen leeren, knurrenden Magen füllen kann. Sein Blick hebt sich von dem Teller vor sich zu ihrem Gesicht und bemerkt sofort, dass sie ihn anstarrt. Ein undefinierbarer Ausdruck dominiert ihr Gesicht und Harry ist versucht, nachzuforschen, weshalb sie ihn so ansieht. Doch schnell löst sie sich wieder aus ihrer Starre und schüttelt den Kopf. Während Elise sich nach hinten lehnt und ihre Arme vor der Brust verschränkt, lässt sie ihn wissen: „Ich werde den Rest essen. Du hast bestimmt mehr Hunger als ich."

Nachdem er sein Gegenüber noch ein wenig länger angeschaut hat, überlegend, ob er sie bitten soll, mit ihm gleichzeitig zu essen, senkt er seinen Blick schließlich wieder auf den befüllten Teller. Er greift nach dem Brot und nimmt einen großen Bissen diesen, schmeckt sofort die Zutaten, die viel hochwertiger scheinen. Ganz im Gegensatz zu dem Laib, den er im Schützengraben zu essen bekommen hat und eher nach Dreck geschmeckt hat. Unwillkürlich stößt er einen zufriedenen Seufzer aus und greift nach dem Glas, in dem sich orangener Saft befindet.

Währenddessen sieht Elise ihm zu. Sie sieht zu, wie er das Essen genießt, das sie erst vor kurzer Zeit auf dem Markt in der nächsten Stadt gekauft hat. Mit halb geschlossenen Augen kaut er gemächlich, legt zwischenzeitlich hin und wieder seine Hände auf den Tisch, nur, um wenig später wieder einen Bissen des Brotes zu sich zu nehmen.

„Elise, bitte auch essen.", fordert Harry sie irgendwann auf, woraufhin sie erschreckt zusammenzuckt und beschämt aufhört, ihn anzustarren, was sie unwillkürlich die ganze Zeit gemacht hat. Sie konnte einfach nicht anders, als sein Gesicht zu beobachten, den stark definierten Unterkiefer und seinen Mund. Schlagartig setzt die Frau sich kerzengerade in ihrem Sessel auf und legt ihre Hände in den Schoß. Ihr Gegenüber neigt seinen Kopf nach rechts, als er raunt: „Du hast Hunger, ich weiß es."

Stumm sieht sie Harry zu, wie er sich über den Tisch beugt und ihr eine Semmel auf den Teller legt. „Du sollst auch essen, nicht nur ich.", fügt er hinzu, sobald er wieder auf seinem Stuhl sitzt. Er nimmt einen Schluck von dem Orangensaft, sein starrer Blick durchbohrt Elise förmlich. Bis sie zögerlich das Essen in ihre rechte Hand nimmt und einen kleinen Bissen von diesem in den Mund nimmt, sieht der Mann sie an und fordert sie somit wortlos auf.

Somit essen sie gemeinsam. Die Stille in der Küche, die nur von leisem Kauen und Schlucken zerstört wird, ist voller Anspannung und weder Elise noch Harry weiß, wieso dem so ist. Beide starren lediglich auf ihre Teller, trauen sich nicht, dem anderen in die Augen zu sehen.

Vielleicht spürt Elise sein Verlangen nach ihr, denkt Harry.

Vielleicht ist es ihm plötzlich unangenehm, mit ihr an einem Tisch zu sitzen, denkt Elise.

Oder vielleicht spüren beide diese Spannung zwischen ihnen, die danach verlangt, dass sie sich näher kommen. Und vielleicht müssen sie auch an Louis denken, der bestimmt nicht gewollt hätte, dass sie sich näher kommen.

Deserteur / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt