05-Harry

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22.September 1916

Ich muss wirklich sagen – oder in diesem Fall schreiben –, dass sie wunderschön ist. Schon als sie die Tür aufgerissen hat und mich kraftvoll in ihr Haus gezogen hat. So kraftvoll, dass ich auf den Fußboden geknallt bin. Als ich mich zu ihr gedreht habe und sie ihren Mund aufgemacht hat.

Oh Mann, ihr Mund. Diese vollen geschwungenen Lippen, die sie oft zu einem ehrlichen Lächeln verzieht. Wenn sie redet und der angenehme Klang ihrer Stimme in meine Ohren dringt. Selbst durch ihre Stimme spüre ich die Sanftheit, die sie mit ihrem ganzen Körper ausstrahlt. Dieses zarte Rosa, so blass, dass es beinahe mit ihrer Hautfarbe verschmilzt.

Und ihre Haut, die ich nur wenige Male zu spüren bekommen habe. So weich wie Samt, über das ich am Liebsten meine Fingerspitzen fahren lassen will. Die kleinen Sommersprossen auf ihren Wangen, ihren vollen Wangen, die schon einmal die Röte einer wunderschönen Blüte angenommen hat.

Diese Augen, mit der Farbe aus Eis. Als würde ich, sobald ich sie ansehe, durch eine kalte Winterlandschaft spazieren und dennoch nicht erfrieren, da Elise eine gewisse Wärme in ihren Augen hat. Kombiniert mit einem Funkeln voller Lebensfreude, die scheinbar in ihr steckt. Oder auch mit dem Glitzern, das aus Trauer besteht.

Ein verdammtes Kopftuch hat den ganzen restlichen Tag, an dem ich bei ihr angekommen bin, ihre Haare verdeckt. Ich weiß nicht, ob ihr Locken über ihren Rücken fallen oder glatte Strähnen nur bis zu den Schultern reicht. Dennoch habe ich einen minimalen Blick auf ihre Haarpracht werfen können, den Ansatz, der nicht von einem beschissenen Stofffetzen verdeckt wurde. Die rabenschwarze Nacht, die Dunkelheit inmitten einer kleinen Miene und der Blick in eine Kanone – daran erinnern mich ihre Haare. Dunkel wie meine Vergangenheit im Krieg.

Und ihr Körper. Ihr Körper, der förmlich danach verlangt, angestarrt zu werden. Mit ihren breiten Hüften und den verhältnismäßig langen Beinen, die unter einem Rock versteckt wurden. Auch, wenn ich gar nicht daran denken, geschweige denn, darüber schreiben dürfte, sind ihre Brüste so wundervoll. So prall und groß, ich bin mir sicher, dass sie perfekt in meine Hände passen würden.

Verdammt, an so etwas darf ich nicht denken.

Aber ihr fleischiger Körper mit diesen Rundungen bringt mich um den Verstand. Das Speckröllchen an ihrem Bauch, den sie innerhalb des Tages meistens hinter ihren Händen versteckt hat und ihr Po – ihr fucking Po – auf den ich manchmal freie Sicht hatte.

Ich möchte mit meinen Händen ihre Oberschenkel massieren, ihren Hintern und währenddessen zuhören, wie sie meinen Namen haucht. Einfach, weil er aus ihrem Mund so verdammt gut klingt. Ich möchte meine Lippen auf ihre legen, bis sie noch geschwollener und voller als normalerweise sind und sie rosiger wirken. Ich will sie gegen eine Wand drängen und –

Und ich darf an so etwas nicht denken.

Elise ist schlicht und einfach eine nette Person, die mir ihre dringend benötigte Hilfe anbietet. Selbst, wenn ihr Körper so verführend ist und mich in Versuchung bringt, ist sie in dieser Hinsicht tabu für mich. Ich bin schließlich nur ein Soldat, ein Deserteur, der seinem Heimatland dem Rücken zugewendet hat. Ich habe meine Familie enttäuscht und Schande über sie gebracht, verdiene eigentlich gar nicht mehr, zu leben.

Aber dennoch nehme ich das Essen und Trinken von Elise dankbar an, ohne zu wissen, wie ich ihr jemals dafür danken könnte. Ich kann ich kein Geld geben, denn ich habe keines, keinen einzigen Schein, keine einzige Münze. Ich lasse mich von ihr verarzten, die Schusswunde, die ich wahrscheinlich von einem Kollegen ihres verstorbenen Mannes abbekommen habe. Sie gibt mir Kleidung und lässt mich in einem warmen Bett schlafen, in dem ich hier und jetzt liege und in mein kleines Buch schreibe mit einem Stift, den auch sie mir gegeben hat. „Damit du nicht mit einem kleinen Bleistift schreiben musst.", hat sie gesagt und mich wieder angelächelt. Mit ihren wundervollen Lippen die ich –

Nein, die ich nicht mehr anstarren, geschweige denn an die ich nicht mehr denken werde. Jedenfalls nicht in diesem Sinne.

Ich kenne sie seit weniger als 24 Stunden, ich sollte nicht so über sie denken. Das ist unzivilisiert und selbst wenn der Krieg alles andere als gesittet ist, werde ich mich nicht von ihm zu so einen unsittlichen Menschen machen lassen. Ich werde nicht über Frauen als Objekt denken, das meinen Fantasien nur noch mehr Kraft und Ausdruck verleiht. So wurde ich nicht erzogen.

Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, dass eine Frau wie eine Göttin behandelt werden soll. Ich soll sie verehren mit all ihren Macken und Unreinheiten und diese als Perfektionen behandeln. Ich soll meine Manieren zeigen und sie verehren sowie verwöhnen, bis sie glücklich mit mir ist. „Deine Ehefrau wird eine Reflexion deines Verhaltens ihr gegenüber sein. Wenn du sie schlecht behandelst, darfst du dir nicht erwarten, dass sie dich bedingungslos liebt. Du musst um sie kämpfen, dich jeden Tag aufs Neue in sie verlieben können, ohne, dass es langweilig wird.", hat Mom mir bereits als ich 13 Jahre jung war eingetrichtert. Gleich, nachdem ich ein Mädchen aus meinem Dorf zum Weinen gebracht habe.

Fuck, wie gerne würde ich das alles bei Elise machen.

Aber sie hat einen Ehemann, der im Krieg gefallen ist. Dem sie noch immer nachtrauert, egal, wie lange es her ist, dass sie durch einen Brief über sein Ableben informiert wurde. Er war bestimmt tapferer als ich, hat sich seinem Ende, dem Tod, gegenübergestellt und ist nicht geflüchtet. Er war bestimmt direkt an der Front, wegen seinem Mut, hat sein Vaterland mit seinem Leben verteidigt und ist für das gestorben, an das er geglaubt hat.

Außerdem hat er Elise bestimmt richtig behandelt und sie geliebt. So sehr, wie sie ihn scheinbar auch noch immer liebt.

Das alles sind zwar nur Vermutungen, doch genau so stelle ich mir den Mann vor, in dessen Kleidung ich gerade auf einem weichen Bett in seinem Haus liege.

Sein beiges Hemd ist mir ein wenig zu klein, sodass ich die obersten drei Knöpfe offenlassen muss. Wahrscheinlich war er wenige Zentimeter kleiner als ich, weshalb auch seine Hose mir nur bis knapp über die Knöchel reicht und der Stoff sehr eng an meinen Beinen liegt. Seine Schuhe passen mir glücklicherweise perfekt, sind mir sogar fast zu groß.

Dieser Louis – dieser verdammt glückliche Louis – würde es nicht verdienen, dass ich in sein Haus eindringe und seine Frau, die mittlerweile zu einer Witwe geworden ist, verführe. Er würde es missbilligen, dass ich wie ein Schmarotzer bei Elise wohne und mich auch noch an ihr vergreife, auch, wenn meine Fantasien verrückt spielen.

Wenn er jetzt noch leben würde und dieses Buch auffinden würde, die Worte über seine Frau lesen würde, wäre ich bestimmt schon längst tot. Obwohl Elise mir gesagt hat, dass er es wollen würde, dass sie sich um mich kümmert, hat er bestimmt nicht das gemeint, an das ich denke.

Außerdem werde ich weiterziehen müssen, sobald ich wieder genügend Kraft in mir habe. Elise hat sicher nicht vor, mich dauerhaft bei sich wohnen zu lassen, sondern will mir nur in der Not helfen. Bald werde ich wieder aus ihrem Leben verschwinden, in Gedanken an den glücklichen Mann, der scheinbar ein Teil ihres Herzens mit ins Grab genommen hat. Oder wo auch immer er seine ewige Ruhe verbringt.

Deserteur / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt