Deserteur / h.s

09

7.Oktober 1916

Mit zusammengezogenen Augenbrauen streckt Elise die rechte Hand, in der sie eine dunkelbraune Jacke hält, aus. „Ich hoffe, dass sie dir passt.", murmelt sie und sieht zu, wie der Mann vor ihr das Kleidungsstück nimmt. Während Harry beide Arme in die Ärmel steckt, zuckt er mit den Schultern und bedankt sich leise. Er schließt einen Knopf in der Mitte seines Oberkörpers und steckt anschließend beide Hände in die Jackentaschen.

„Du siehst ein wenig aus wie Louis.", flüstert die Frau, bevor sie sich davon abhalten kann, und wendet den Blick dennoch nicht von seinem Körper ab. Harrys Schultern sind ein wenig breiter und er ist auch größer als ihr verstorbener Ehemann, dennoch sieht ihr Gegenüber in dieser Jacke aus wie Louis.

Als würde Harry sich plötzlich unwohl in seiner Haut fühlen, verlagert er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und spielt nervös mit seinen Fingern. Er räuspert sich und geht zu der Haustür, bevor er fragt: „Können wir jetzt Holz suchen?" „Ja natürlich.", nickt Elise und sieht abrupt auf den Boden, ihre Wangen verfärben sich zu einem blassen Rosa. Sie greift zu der Türklinke und drückt diese hinunter, die Berührung mit dem kalten Metall lässt Gänsehaut auf ihren Armen entstehen.

Die kalte Luft peitscht beiden augenblicklich ins Gesicht und die Frau ist versucht, das Suchen von Holz abzublasen. Lieber würde sie einen Tee kochen und sich vor dem Kamin in einen der weichen Sessel setzen, vielleicht sogar Harry wieder zuhören, wie er seine Aussprache übt. Doch eine Hand legt sich auf ihren Rücken und schiebt sie sanft über die Türschwelle.

„Wir werden uns beeilen, ok?", ermutigt Harry sie, während er den Kragen der Jacke aufstellt und ihn zu seinen Ohren hinaufzieht. Er stößt seinen Atem durch den Mund aus und sieht zu, wie sich vor seinem Gesicht eine kleine Wolke bildet, die Momente später durch den Wind hinfort getragen wird. Auch er würde lieber in ihrem Wohnzimmer sitzen – oder eher durch den Raum schreiten – während er ein Buch, das eigentlich für Kinder geschrieben wurde, in seinen Händen hält. Er würde lieber ihren Blick auf seinem Körper spüren und sich von ihr verbessern lassen, wenn er ein Wort falsch ausgesprochen hat.

Aber dennoch überquert er die Veranda und steigt die zwei Treppen hinunter. Nun ist er dem Wind schutzlos ausgeliefert, er spürt, wie sich die eisige Kälte durch den dicken Stoff der Jacke bohrt und in Berührung mit seiner Haut kommt. Harry schlingt beide Arme um seinen Oberkörper und dreht sich zu Elise, die gerade an der Fassade entlang geht, um zu einem schäbig wirkenden Schubkarren zu gelangen.

„Du kannst schon nach Ästen suchen.", ruft die Frau laut genug, um den Wind zu übertönen. Sie beugt sich leicht und schlingt ihre bereits kalten Finger um die zwei Griffe des Karrens. Die ganze Zeit liegt Harrys Blick auf ihr und er bewegt sich keinen Zentimeter. Erst, als sie direkt neben ihm steht und ihn sanft mit der Schulter anstößt, löst er sich aus seiner Starre. „Wenn wir den ganzen Schubkarren voll haben, können wir wieder hinein.", lässt Elise ihn wissen und geht geradewegs auf den Wald zu.

Ihre Schuhe sinken in den Schlamm ein, der durch den Regen der letzten Nacht entstanden ist. Ihr Atem verschnellert sich durch den Widerstand des Untergrundes unter ihr und mit jedem Meter, den sie voranschreitet, bereut sie mehr, dass sie nicht gleich wieder die Tür zugeschlagen hat und das Sammeln von Holz vertagt hat. Elise stößt seufzend den Atem aus und stellt den Karren vor sich ab. Anschließend dreht sie sich einmal um die eigene Achse, um nach Ästen zu suchen, die sie zum Heizen benutzen könnte.

Zu ihrem Erstaunen hört sie hinter ihrem Rücken, wie Holz auf Metall trifft, und als sie sich umdreht, sieht sie Harry, der mit einem konzentriert wirkenden Gesichtsausdruck eine Handvoll Äste in den fahrbaren Behälter wirft. Er wendet seinen Blick von dem Holz ab und sieht der Frau direkt in die Augen, als er sämtlichen Mut zusammennimmt und sie fragt: „Würde Louis auch wollen, dass du dich verliebst?"