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12.November 1916

Nachdem Harry auf den Auslöser der Kamera gedrückt hat, eilt er schnell zu Elise und legt den rechten Arm um ihre Taille. Er richtet sich auf und streckt die Wirbelsäule, wodurch er um mehr als einen Kopf größer als sie ist. Seine Lippen kurven sich zu einem charmanten, leicht schiefen Lächeln, wodurch die Grübchen in seinen Wangen sichtbar werden. Die Locken auf seinem Kopf hat er sich bereits zuvor gerichtet, da fünf Sekunden zu wenig Zeit dafür sind.

Elise hat sich in ihrer Haltung positioniert, die sie über die Jahre gelernt hat, um möglichst vorteilhaft von der Kamera abgelichtet zu werden. Ihr Schmunzeln verdeckt ihre Zähne zur Gänze und auch keine Lachfalten entstehen dadurch. Sie spürt Harrys warme Hand an ihrer Hüfte, die sie minimal entspannen lässt und verschränkt ihre eigenen Finger in letzter Sekunde ineinander.

Ein Blitz erhellt für eine Sekunde das Wohnzimmer und Elise muss sich zwingen, nicht zu blinzeln. Dieses eine Foto, das sie morgen noch entwickeln muss, wird sie sowie Harry durch die Zeit, die sie getrennt von einander verbringen werden müssen, bringen. Es soll sie daran erinnern, dass selbst im trostlosen, Unheil bringenden Krieg eine Person wartet und diese ihr Leben mit dem jeweils anderen verbringen will. Trotzdem sie unzählige Kilometer getrennt von einander sind.

„Hast du gelächelt?", fragt Harry und löst seinen Arm von ihrer Taille und geht auf die Kamera, die notdürftig auf einem Stapel Bücher platziert wurde, zu. Er nimmt den Apperat in beide Hände und hält das Suchokular an sein rechtes Auge. Neugierig sieht er sich durch die Linse im Raum um und legt den rechten Zeigefinger auf den Auslöser.

Elise nickt zaghaft und beißt sich auf die Lippe. „Ich hoffe, dass der Bekannte, der die Bilder entwickelt, nicht allzu viele Fragen stellen wird.", spricht sie ihre Gedanken laut aus. Ihr Blick richtet sich auf den Mann, der sie mittlerweile mit dem Objektiv anvisiert hat und bevor sie realisiert, was er macht, erhellt ein Blitz erneut den Raum. Erschrocken hält sie sich eine Hand übers Herz und ruft: „Harry, du kannst doch nicht einfach ein Foto machen!"

„Doch, das kann ich. Ich brauche ein Bild von dir.", kontert der Angesprochene grinsend und blickt auf die Kamera. Ohne aufzusehen geht er auf Elise zu und bleibt direkt vor ihr stehen, woraufhin sie einen Finger unter seinem Kinn platziert und dieses anhebt, um ihn zu küssen.

Seine freie Hand legt Harry auf den die untere Hälfte ihres Rückens und drückt sie somit näher an sich. In den Kuss hinein lächelnd will er diesen vertiefen, wird jedoch enttäuscht, als die Frau sich wieder von ihm löst und die Kamera aus seinem Griff nimmt.

„Wir brauchen die Fotos rechtzeitig, bevor du abreist.", denkt Elise laut nach und entfernt die zylinderartige Filmrolle von dem Apparat. Sie hält diese mit zwei Fingern in die Höhe und teilt Harry mit: „Ich werde jetzt in die Stadt zu meinem Bekannten gehen, damit er uns rechtzeitig die Bilder entwickeln kann."

„Was ist, wenn er fragt, wer ich bin?", äußert der Mann seine Bedenken und folgt ihr, während sie sich auf den Weg zur Haustür macht. Als Elise lediglich ihre Schultern zucken lässt, fügt er in einer spottenden Stimme hinzu: „Das ist nur ein britischer Deserteur, nicht schlimm."

Links von der befindet sich an der Wand eine hölzerne Kommode, von der die Frau die oberste Lade öffnet und eine handliche Pistole hervorzieht. „Ich werde mich um seine Fragen kümmern. Das könnte ja auch eine ältere Filmrolle sein, von vor dem Krieg. Du könntest ein Verwandter von Louis sein, der mich damals besucht hat.", will Elise seine Sorge mindern und legt eine handvoll Patronen auf die Oberfläche des Möbelstückes.

Skeptisch sieht Harry ihr dabei zu, wie sie mit zittrigen Fingern, als hätte sie Angst vor der Waffe, diese mit Munition füllen will. Kurz bevor ihr die Pistole auf den Boden fallen kann, nimmt er ihr diese ab und lädt dieses nach. Anschließend sichert er sie wieder und murmelt: „Nur schießen, wenn es nicht anders geht."

„Danke, das sind aber nur Platzpatronen.", erklärt die Frau ihm, während sie das kleine Gewehr in den breiten Gürtel ihres Kleides steckt. Die Filmrolle, die sie zuvor auf die Kommode gestellt hat, steckt sie in die linke Tasche ihres Mantels, nachdem sie diesen angezogen hat.

„Du kannst trotzdem damit verletzen und verhaftet werden.", gibt Harry Konter und dreht Elise an den Schultern zu sich, damit er ihr tief in die Augen sehen kann. Für einige Sekunden starrt er in das eisige Blau, das ihre geweiteten Pupillen wie zarte Ringe umrandet, den Mund zu einem kleinen Spalt geöffnet. „Pass auf dich auf.", haucht er schließlich und platziert einen federleichten Kuss auf ihrer Stirn.

Lächelnd und mit zarter Röte, die durch diese simple, aber dennoch bedeutende Geste entstanden ist, auf ihren Wangen nickt sie und murmelt: „Werde ich machen. Du solltest deinen Koffer packen, er liegt unter dem Bett."

„Ich will das aber nicht.", schmollt Harry mit hervorgeschobener Unterlippe und lässt seine Hände von ihren Schultern entlang ihrer Arme hinuntergleiten, um seine Finger mit ihren verschränken zu können. Erneut küsst er ihr Gesicht, dieses Mal auf den Wangen und fügt hinzu: „Ich will nicht gehen."

Unwillkürlich drängen sich Tränen in die Augen der Frau, welche sie jedoch schnell wieder wegblinzelt, bevor sie mit gebrochener Stimme haucht: „Du musst aber gehen." „Bitte komm mit mir.", fleht Harry und zieht sie an den Händen einen Schritt weg von der Haustür.

„Wir beide wissen, dass das nicht so einfach geht.", wehrt Elise kopfschüttelnd ab, als der Mann sie küssen will. Allein mit seinen Gesten könnte er sie dazu bringen, mit ihm in das Flugzeug zu steigen und sofort ein neues Leben in Kingston zu beginnen. Seine grünen Augen sehen sie bittend an, woraufhin sie sich von ihm abwendet und schnell die Haustür aufschließt, bevor ihr Herz über ihren Verstand siegt.

Die kalte Luft peitscht ihnen sofort entgegen, sobald Elise den Eingang geöffnet hat. Obwohl sie sich wieder umdrehen und in Harrys starke Arme flüchten will, um der grausem Außenwelt zu entgehen, macht sie schwermütig einen Schritt nach vorne. „Bitte packe deinen Koffer. Zumindest ausreichend Kleidung kannst du dir schon einmal richten.", weist sie den Mann an, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht.

„Wann kommst du zurück?", fragt Harry sie, bevor sie die Veranda überqueren kann. Elise hält in ihren Bewegungen inne und dreht lediglich den Kopf zu ihm. Stumm zuckt sie mit den Schultern und setzt anschließend ihren Weg fort, immer weiter weg von dem Mann.

Schweren Herzens schließt er die Tür, sobald sie den Vorplatz überquert hat. Eine plötzliche Welle der Wut sowie Verzweiflung durchzuckt ihn und lässt ihn laut aufschreien. „Wieso kann ich nicht glücklich sein?", ruft er und sieht an die Decke, als könnte ihm diese eine Antwort geben, die er wahrscheinlich gar nicht hören will. Wie ein Kleinkind stampft er auf dem Boden herum, bevor er sich auf den Weg zu dem Schlafzimmer, das er mit Elise teilt. Er kniet sich vor das Bett, auf der Suche nach dem Koffer, von dem sie zuvor gesprochen hat.

Schnell wird er fündig und zieht das Gepäckstück aus braunem Leder hervor. Dieses legt Harry auf die Matratze, öffnet es jedoch nicht. Er lässt sich auf den Boden fallen und zieht die Knie an seinen Oberkörper, umarmt seine Beine. Ohne sich dagegen wehren zu können beginnen langsam, Tränen aus seinen Augen zu fließen, leise Schluchzer durchzucken ihn hin und wieder. 

Deserteur / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt