Kapitel 1

1.2K 93 13
                                    


Lieber Henry,

Irgendetwas stimmt nicht. Ich merke es an der Art wie er mit mir spricht, wie er mich ansieht. Er ist in Gedanken weit weg, ich komme nicht mehr an ihn ran. Er versucht es mich nicht merken zu lassen, doch ich kenne ihn viel zu gut um nicht zu erkennen, dass er mir etwas verschweigt. Ich weiß einfach nicht was ich tun soll, ich habe furchtbare Angst davor ihn zu fragen was los ist. Ich fürchte mich vor seiner Antwort. Ich kann ihn einfach nicht verlieren, ich liebe ihn mehr als alles andere in meinem Leben. Ich brauche ihn. Was soll ich nur tun? Ich wünschte ich könnte etwas unternehmen, doch ich kann nur wach in meinem Bett liegen und all die wunderschönen Erinnerungen heraufbeschwören. Ich werde versuchen weiterzuschlafen, auch wenn ich weiß, dass ich meine Gedanken nicht abschalten kann.

Bis bald, Noah

Stöhnen griff sich Henry an seinen schmerzenden Kopf. Er hatte so gut geschlafen und jetzt das. Träge setzte er zuerst den linken, dann den rechten Fuß auf den kalten Boden und rieb sich die Schläfen. Im Dunkeln tastete er nach seinem Handy und warf einen Blick darauf. Es war kurz vor vier.

Genervt seufzte er auf und erhob sich von seiner Matratze. Noch immer schlaftrunken und mit schmerzendem Kopf torkelte er durch den Gang. Das grelle Licht im Badezimmer schmerzte in seinen Augen und trug nicht dazu bei, dass der Druck in seinem Kopf abnahm. Mit zugekniffenen Augen schaffte er es einen Becher unter den Wasserstrahl zu halten und setzte sich schließlich auf den kühlen Badewannenrand. Als er an dem kühlen Wasser nippte nahmen seine Kopfschmerzen langsam ab und er konnte endlich wieder klar denken.

Es war ihm bis jetzt noch nie passiert, dass er mitten in der Nacht einen Aussetzer gehabt hatte. Normalerweise passierte ihm das nur abends und in letzter Zeit nicht einmal mehr so regelmäßig wie es früher der Fall gewesen war. Es kam ihm so vor als wäre es dieses Mal sogar intensiver gewesen als die letzten Male. Vielleicht lag es ja an den starken Emotionen die dieses Mal hinter dem Aussetzer gesteckt hatten. Die schreckliche Verzweiflung und Hilflosigkeit klang noch immer dumpf in Henry nach und er fragte sich ob irgendwo draußen wirklich jemand schlaflos im Bett lag und diese Emotionen durchlebte. Sofort schüttelte er den Kopf als wolle er dadurch den lästigen Gedanken abschütteln. Nein, ihm war klar, dass die Nachrichten die er während seinen Aussetzern erhielt nicht von einer anderen Person stammten. Sein Psychiater hatte es mit ihm oft genug durchbesprochen.

Henry glaubte selbst nicht mehr daran, dass er in der Lage war Botschaften von fremden Menschen zu empfangen. Diese Nachrichten kamen aus ihm selbst und spiegelten seine Emotionen wieder. Das war zumindest die offizielle Erklärung, Henry konnte in den Nachrichten oft nur mit Mühe Parallelen zu seinem eigenen Leben finden. Doch das musste er auch gar nicht, denn sein Psychiater war ein äußerst kreativer Mensch der immer wieder eine Erklärung fand was nun die Nachrichten mit Henrys Gefühlsleben zu tun hatten. So hatte er zum Beispiel all die Nachrichten über ein glückliches Beziehungsleben, die Henry im letzten halben Jahr erreicht hatten, als Henrys tiefe Sehnsucht nach einer Beziehung gedeutet. Das klang zwar plausibel, doch wenn Henry ehrlich war konnte er sich nicht vorstellen, dass sich sein Unterbewusstsein nach einer Liebesbeziehung verzehrte. Er war nun schon fast ein Jahr Single, aber das fand Henry gar nicht so schlimm. Natürlich hätte er nichts dagegen wieder eine Beziehung zu führen, jedoch war er auch glücklich damit sich nur um sich alleine kümmern zu müssen. Das durfte er nur nicht seinen Psychiater hören lassen, dieser hielt ihm sonst wieder einen Vortrag darüber, dass er seine tiefsten Emotionen die ihm in den Aussetzern offenbart wurden, nicht verleugnen durfte. Henry war schon sehr gespannt, wie dieser den neuen Aussetzer deuten würde, er war sich sicher, dass ihm Verlustängste oder ähnliches angedichtet werden würden.

Henry konnte sich nur zu gut an seinen ersten Aussetzer erinnern. Alles hatte begonnen als er vierzehn Jahre alt gewesen war. Mitten in der langweiligen Physikstunde war er vom Sessel gekippt. Seine Mitschüler hatten zuerst gedacht er sei einfach nur eingeschlafen, als er sich jedoch auch nach mehrmaligen an der Schulter Rütteln nicht gerührt hatte, hatte sein Physiklehrer panisch die Rettung gerufen. Das hatten ihm zumindest seine Freunde Tage später erzählt. Denn Henry war erst wieder nach zwei Stunden mit wummernden Kopfschmerzen im Krankenhaus zu sich gekommen. Die Ärzte hatten sofort auf ihn eingeredet, doch Henry konnte sich nicht auf das konzentrieren, was sie sagten, da er noch die Stimme im Ohr hatte, die er während seines Aussetzers gehört hatte. Es war eine helle Jungenstimme gewesen von der er sich sicher war, dass er sie noch nie zuvor gehört hatte. Noch heute träumte Henry von diesem ersten Aussetzer, dessen Worte sich in sein Hirn eingebrannt hatten:

Hallo! Ich habe dich gerade von meiner Mama geschenkt bekommen. Sie sagt ich soll Tagebuch schreiben damit ich mit meinen Gefühlen besser klarkomme oder so ein Quatsch. Ich find Tagebuch schreiben doof, das ist was für Mädchen. Ich glaub ich geb dir einen Namen dann komm ich mir nicht so seltsam vor, ich stell mir einfach vor, dass ich an einen guten Freund schreibe. Wie willst du denn heißen, liebes Tagebuch? Mark? Oliver? Mhm... nein ich glaub ich nenne dich Henry! Also lieber Henry, freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin übrigens Noah und ich bin gerade dreizehn Jahre alt geworden.

Die Ärzte hatten sich nicht wirklich dafür interessiert, was Henry während seines Aussetzers gehört hatte. Sie taten es als Traum ab und reichten ihn lieber durch sämtliche Abteilungen im Krankenhaus wo jeder Zentimeter seines Körpers untersucht wurde. Finden konnten sie jedoch nichts, sein Hirn entsprach dem eines gesunden Jungen und es fand sich kein Hinweis darauf woher der Aussetzer gekommen war. Es war auch nicht bei dem einen Aussetzer geblieben. Anfangs war Henry jeden Tag aufs Neue umgekippt und als er die Augen wieder öffnete erzählte er den Ärzten davon was Noah gerade erlebte. Die Ärzte waren ratlos und als Henry jeden erdenklichen Test durchlaufen hatte, wurde er in die Psychiatrie geschickt.

Dort wurde Henry alle paar Tage mit einer neuen Krankheit diagnostiziert, von Persönlichkeitsstörung über Schizophrenie war alles dabei. Doch Henry passte in kein Schema und schließlich erkannten die Ärzte, dass Henry keine Gefahr für ihn selbst oder andere sei. Ihm wurde gesagt, dass er ein Sonderfall sei und Noah keine eigenständige Person, sondern lediglich ein Teil seiner Persönlichkeit sei. Die Aussetzer wurden auch immer schwächer, Henry hörte zwar noch immer Noahs Stimme, doch schloss er nur noch für wenige Sekunden die Augen, anstatt jedes Mal umzukippen. Seitdem waren fast fünf Jahre vergangen und Henry hatte sich daran gewöhnt Noahs Stimme zu hören, sie war ihm schon fast so vertraut wie seine eigene.

Er hatte mit ihm viel durchgemacht. Noah hatte eine Gabe dafür sich in die falschen Menschen zu verlieben, Henry musste sich Monate lang anhören wie Noah das Mädchen aus der Nebenklasse anschmachtete oder beschrieb wie unglaublich toll doch seine Handballtrainerin war. Doch mit Abstand am Schlimmsten war die Zeit als Noah nur noch von der Popgruppe geschwärmt hatte, die es ohnehin dauernd im Radio spielte und die Henry nicht ausstehen konnte. Dazu kam noch, dass Henry sich zusätzlich zu den Aussetzern auch noch bei seinem Psychiater mit den Themen auseinandersetzen musste. Erst als Noah angefangen hatte sich mit einem anderen Jungen zu treffen hatte sich Henry mehr mit ihm identifizieren können. Sein Psychiater hatte es stolz als Durchbruch bezeichnet, dass auch Henrys Unterbewusstsein endlich ihn so annehmen konnte wie er wirklich war.

Henry wusste nicht so recht, was er von all dem Gerede halten sollte, dass Noah ein Teil seiner Persönlichkeit war. Natürlich sah er die klaren Ähnlichkeiten, andererseits konnte er auch etliche Themen aufzählen mit denen Noah sich intensiv beschäftigt hatte, die ihn überhaupt nicht interessierten. Henry wusste einfach keine logische Erklärung für seine Aussetzer, deswegen musste er wohl oder übel an die der Ärzte glauben. Doch gerade mitten in der Nacht wenn die ganze Welt schlief konnte Henry nicht anders als darüber nachzudenken was wäre wenn Noah doch existierte. Auch wenn er wusste, dass es unmöglich war kam er nicht umhin sich um den Jungen Sorgen zu machen, dessen Stimme er bis jetzt nur in seinem Kopf gehört hatte.

Dear Henry (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt