Kapitel 4

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Lieber Henry,

Bis jetzt dachte ich, dass mein Leben mit der Trennung von Fabian geendet hat, doch da hatte ich Unrecht. Es hat vor zwei Tagen endgültig geendet. Ich habe meine Mathematura in den Sand gesetzt. In der Nacht davor konnte ich wieder nicht schlafen. Während der Prüfung wäre ich dann fast eingeschlafen und plötzlich hatte ich ein komplettes Blackout. Mein Lehrer hat versucht mir zu helfen, aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich weiß einfach nicht was ich jetzt tun soll, ich fühle mich so unendlich alleine. Meine ganze Klasse feiert die Nächte durch, aber ich fühle mich als würde ich nicht dazu gehören. Nächste Woche fahren alle zusammen nach Kroatien, aber ich werde zuhause bleiben, ich kann einfach nicht so tun als wäre alles okay. Ich weiß einfach nicht mit wem ich reden soll, meine beste Freundin ist seit zwei Wochen auf Urlaub und sonst fällt mir niemand ein, der mir helfen könnte. Meine Freunde bereiten sich alle auf das Studium vor und genießen ihre freie Zeit, während ich nicht einmal weiß, ob ich nächstes Jahr mit der Schule fertig sein werde. Ich habe schon versucht für meine Nachprüfung zu lernen, ich bin jedoch immer so müde und aufgelöst, dass ich nichts zustande bekomme. Mathe war noch nie meine Stärke, aber in diesem Zustand ist es ein Ding der Unmöglichkeit geworden Differentialgleichungen zu lösen. Ich weiß nicht wie ich diese Prüfung bestehen soll, ich glaube es ist aussichtslos.

Bis bald, Noah

Der Emotionswirbel aus Traurigkeit, Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit schlug auf Henry ein, doch dieses Mal war er auf die Intensität des Aussetzers vorbereitet. Er versuchte weiterhin tief durchzuatmen und klammerte sich mit beiden Händen an den Sessel auf dem er gerade saß. Erst als er sich sicher war, dass das Schlimmste vorüber war, öffnete er die Augen.

Elisa, die ihm mit einem Buttermesser in der Hand gegenüber saß, sah ihn fragend an. Henry musste nur zu einem Nicken ansetzen, da sprang sie schon begeistert auf, ließ das Messer neben ihr Brot fallen und rannte mit aufgerissenen Augen in ihr Zimmer.

Henry griff in der Zwischenzeit nach seinem Glas und besänftigte mit dem kühlen Wasser sein Kopfweh. Nur Sekunden später kam Elisa mit einer Mappe unter dem Arm wieder zurück und ließ sich auf ihren Sessel fallen. Ohne wirklich hinzusehen, schob sie ihr Abendessen zur Seite und schlug die Mappe auf. Mit flinken Fingern holte sie einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und sah Henry erwartungsvoll an, während sie mehrmals ungeduldig mit dem Kugelschreiber klickte.

„Und?"

„Es geht ihm nicht wirklich besser würde ich behaupten. Eher schlechter. Er hat die Matura nicht geschafft und fühlt sich noch mehr alleine als zuvor, da seine ganzen Freunde Party machen.", fasste Henry die Geschehnisse für Elisa zusammen. Sofort flog ihr Blick auf die aufgeschlagene Seite und sie begann zu schreiben. Vor ein paar Wochen hatte Elisa damit angefangen jedes Detail, das Henry über Noah preisgab in einer eigens dafür angefertigten Mappe festzuhalten. Sie war wie versessen darauf Noah zu finden und empfand jede Kleinigkeit als wichtig. Stundenlang hatte sie Henry ausgequetscht, bis sie der Meinung gewesen war, dass sie nun genug Informationen erhalten hatte.

„Das klingt alles andere als gut.", kommentierte Elisa, während sie noch immer weiterschrieb.

„Was hat er noch gesagt? Irgendetwas über seinen Aufenthaltsort vielleicht?" Elisa unterstrich etwas in ihrem Ordner und sah Henry dann fragend an.

„Nein, er hat nur gesagt, dass seine Klasse nach Kroatien auf Maturareise fährt, das wird uns aber nicht wirklich weiterhelfen, denke ich."

Elisa fing sofort wieder an zu schreiben, während Henry seinen Teller von sich schob. Noahs Gefühle klangen noch immer in ihm nach, wodurch ihm wirklich der Appetit vergangen war. Er konnte einfach nicht verstehen, wie ein Mensch so viel Pech in so kurzer Zeit haben konnte. Die Sorge um Noah hatte mit diesem Eintrag noch mehr zugenommen, er wusste wie sehr Noah sich darauf gefreut hatte, endlich studieren zu können, er konnte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für ihn sein musste, dass dieser Traum jetzt ins Wanken geriet.

„Und sonst, irgendwelche Angaben, die nützlich sein könnten?", bohrte Elisa weiter nach und klopfte mit ihrem Kulli ungeduldig auf die Tischkante. Henry zog die Stirn in Falten und überlegte, ob er eine wichtige Information vergessen hatte.

„Mhm... er ist in Mathe durchgefallen, hilft dir das irgendwie?"

„Nicht wirklich. Hast du nicht noch etwas anderes, irgendwas.", bat Elisa und Henry dachte weiter nach.

„Er hat gesagt, dass seine Matura zwei Tage her ist.", sagte Henry und zuckte mit den Schultern. Elisas Augen leuchteten auf.

„Und das sagst du mir erst jetzt?!", warf sie Henry vor, während sie schon wie wild drauf los schrieb.

„Naja ist das denn so wichtig?" Henry kratzte sich am Kopf und sah seine beste Freundin fragend an.

„Natürlich ist das wichtig!" Er wurde mit einem vorwurfsvollen Blick gestraft.

„Das grenzt die Suche schon mal ein! Ich muss nur herausfinden welche Bezirke letzte Woche ihre Matura hatten und schon sind wir ein Stück näher an ihm dran."

Elisa sprang auf und grinste Henry an. „Ich werde mich gleich an die Arbeit machen und DU", sie richtete ihren Zeigefinger auf Henry. „Du ruhst dich schön brav aus, du siehst schon wieder ganz blass aus." Sie packte ihre Mappe und verschwand eilig in ihr Zimmer, ohne ihr Abendessen nochmal eines Blickes zu würdigen.

Henry atmete tief durch, Elisa hatte recht, er fühlte sich wirklich nicht sonderlich gut. Vielleicht nahmen ihn die häufigen Aussetzer doch mehr mit als er zugeben wollte. Er stand auf, verstaute das übrig gebliebene Essen wieder im Kühlschrank und machte sich auf den Weg ins Bett.

Henry glaubte nicht, dass er einschlafen können würde, da seine Gedanken noch immer um Noah kreisten, doch kaum hatte sein Kopf den Polster berührt, war er auch schon in einen tiefen Schlaf gesunken.

Das Licht in Henrys Zimmer war schummrig, trotzdem nahmen seine Augen alles vollkommen klar wahr. Alles sah so aus wie immer, der Schreibtisch war unaufgeräumt, auf einem Sessel in der Ecke stapelte sich sein Gewand und das Bett stand samt Henry dort, wo es sich immer befand. Doch irgendetwas stimmte nicht. Henry ließ den Blick nochmal über sein Zimmer gleiten, da fiel ihm endlich auf, was anders war. Neben seiner verschlossenen Zimmertür befand sich auch noch eine zweite, unscheinbarere Tür, die einen Spalt offen stand. Mit gerunzelter Stirn stand er langsam auf und ging auf die Tür zu. Einen letzten Blick warf er noch zurück in sein Zimmer. Überrascht stellte er fest, dass sein Körper noch immer in dem Bett ruhte. Er machte sich nicht weiter Gedanken darüber und schob die Tür soweit auf, dass er hindurch schlüpfen konnte.

Das Zimmer, in welchem er sich befand erschien verschwommen und egal wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte seine Augen nicht dazu bewegen scharf zu stellen. Nur ein Teil des Zimmers war seiner Wahrnehmung nicht vorenthalten. Es war ein in der Ecke stehendes Bett auf dem ein in eine Decke eingewickelter Junge lag. Langsam näherte sich Henry dem Bett und sah dabei zu, wie sich die Gestalt unruhig hin und her wälzte. Es war zu dunkel, als dass Henry mehr als die Umrisse des Jungen wahrnehmen hätte können. Er fühlte sich von dem zierlichen Körper magisch angezogen und konnte nicht widerstehen seine Hand beruhigend auf dessen Schulter zu legen. Einen Moment entspannte sich der Junge, doch plötzlich fing er an zu beben. Henry wusste im ersten Moment nicht, was vor sich ging und zog erschrocken die Hand zurück. Da erst vernahm er das leise Schluchzen, welches die Stille durchbrach. Dieses Geräusch löste einen stechenden Schmerz in seiner Brust aus, der sich immer weiter ausbreitete.

Ohne weiter nachdenken zu müssen legte sich Henry in das Bett und zog den zitternden Jungen an sich. Warm schmiegte sich der bebende Körper an seinen, Henry hatte das Gefühl, dass das Weinen nur durch seine Anwesenheit an Intensität verloren hatte. Beruhigend strich Henry dem Schlafenden über den Rücken. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, es fühlte sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Vorsichtig strich er über die weiche Wange des Jungens, die von den Tränen feucht war. Als er ihm beruhigend über den Kopf strich, spürte er weiche Locken die ihm wie Seide durch die Finger rannen. Der Körper des anderen schmiegte sich noch enger an ihn, er bebte nur noch leicht und die Tränen waren versiegt.

Henry bettete den Kopf des Jungens auf seine Brust und lehnte sich selbst in die Kissen. Plötzlich überkam auch ihn eine angenehme Müdigkeit. Sein letzter Gedanke galt dem nun ruhig in seinen Armen ruhenden Jungen. „Noah.", flüsterte er fast unhörbar, bevor er in den Tiefen der Nacht versank.

Dear Henry (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt