~2~ Hoffnung aus Marmor

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Das gemeinsame Abendessen blieb an diesem Abend aus. Jeder von uns versuchte auf seine Weise, mit den Ereignissen des Tages zurecht zu kommen. Dad zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und anhand der heftigen Geräusche, die in den nächsten Stunden zu hören waren, konnte ich nur vermuten, dass er seine Wut und Trauer in Chaos versenkte. Ich sah das Bild vor meinem inneren Auge, dass sich mir morgen bieten würde. Rechnungen, Verträge, einzelne Ordner und lose Blätter auf dem Boden verstreut, umgekippte Blumentöpfe und aus den Schränken gerissene Bücher.

Mum zuckte bei jedem weiteren krachenden Laut im Nebenzimmer unwillkürlich zusammen. Sie hatte sich in eine weiße Wolldecke gewickelt und zitterte am ganzen Leib, als herrschte draußen ein immer währender Wintersturm. In den Händen hielt sie eine dampfende Teetasse, deren Flüssigkeit schon ein paar Mal verdächtig nahe an den Rand geschwappt war.

Ich leistete Mum in den ersten Minuten eine Weile Gesellschaft bis ihre Tränen einigermaßen getrocknet waren. Dann erhob sie mit zitternder Stimme das Wort.

„Ich rufe morgen an deiner Schule an, dass du in den nächsten Tagen nicht zum Unterricht erscheinen wirst. Wir wissen alle noch nicht so recht, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen und wenn der Schreck sich endlich verflüchtigt hat, kannst du dich wieder in Ruhe auf die Schule konzentrieren, einverstanden?"

Sie schenkte mir ein flüchtiges, warmes Lächeln, um ihre Aussage einigermaßen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Doch ich wusste es besser. Der Schreck würde noch ewig anhalten. Er würde die Sorgen und den Schmerz hervorrufen, den wir mühevoll zu verdrängen versuchten und uns davon abhalten unser Leben zu leben, so wie wir es noch vor wenigen Tagen getan hatten.

Dennoch nickte ich nur seufzend und verließ leise das Wohnzimmer.

Am nächsten Morgen schien kein Tageslicht in mein Zimmer. Es war dunkel, wie eine Nacht ohne Sterne. Meine digitale Uhr zeigte in leuchtend grünen Ziffern die Zeit 6:53 Uhr. Man könnte meinen, dass niemand so früh am Morgen richtig denken kann. Aber ich erinnerte mich an jedes Detail des gestrigen Tages.

Schlaftrunken setzte ich mich auf, lehnte mich mit dem Rücken an die Bettkante und bettete meinen dröhnenden Kopf auf die angewinkelten Knie. Die nackten Füße begannen wie von selbst in einem nie enden wollenden Takt auf und ab zu wippen. Irgendwie wirkte es beruhigend auf mich und half mir, die Schmerzen und Trauergedanken für einen Moment aus meinem Kopf zu verbannen.

Ich spürte meinen gleichmäßigen, warmen Atem an meinem Knie und gleichzeitig die Kälte, die sich in meinem Zimmer ausgebreitet hatte, als hätte das Zimmerfenster die ganze Nacht lang offen gestanden.

Nach wenigen Minuten Stille schwang ich meine Beine über die Bettkante. Lustlos baumelten sie herab, schwebten knapp über dem weichen Teppich, der einige Male die nackten Zehen streifte. Müde zwang ich meinen Körper zur Bewegung, sodass das Bett knarzte, als ich mich endlich hoch stemmte.

Ich wollte nicht an der Trauer zerbrechen, die mich wie ein tonnenschweres Gewicht zu Boden drückte und ich durfte es nicht. Jenna hätte gewollt, dass ich mein Leben fort fuhr, dass ich so lebte, als wäre nie etwas vorgefallen und sie trotzdem in meinem Herzen behielt. Und auch, wenn es schwer war, den Kummer zu ertragen, so würde ich mich nicht ein ganzes Leben lang unter der Trauer begraben, die sich angehäuft hatte.

Entschlossen schritt ich auf den Lichtschalter zu und knipste ihn an. Meine Augen brauchten nicht lange, bis sie sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Erschöpft riss ich die Tür meines Kleiderschranks auf, streifte mir einen grauen Pulli über und schlüpfte in eine bequeme Jeans und ein weiches Paar Wollsocken. Anschließend betrachtete ich mein Spiegelbild, das dem von Jenna so sehr ähnelte, dass ein Fremder denken könnte, wir wären Zwillinge. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln.

TodestränenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt