~4~ Die verlassene Stadt

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Ich lauschte. Mitten in die Stille hinein. Mitten ins weiße Nichts, das vor meinen geschlossenen Augenlidern die Gestalt von tanzenden Schatten annahm. Tanzende Schatten, als ob sie mich verhöhnen würden, so wie ich regungslos da lag. Gleichzeitig von Kummer gequält und von Schmerz zerrissen.

Ich war zusammengesunken. Ohne Kraft, ohne das kleinste Gefühl zu leben. Vielleicht tat ich es nicht. Das konnte ich nur wissen, wenn ich mich dazu entschied, die Augen zu öffnen. Doch das wollte ich nicht. Nicht, wenn mich der gleiche Anblick erwartete, der sich wohl auch Jenna nach ihrem Tod geboten hatte. Trotzdem konnte ich nicht zulassen, dass mich die Schmerzen in die Knie zwangen, denn ich wollte leben und dafür musste ich sie besiegen.

Meine Lider zitterten und blinzelten, geblendet von dem grellen Licht einer weißen Sonne, die im Zenit über mir stand. Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen und öffnete sie erneut. Erschrocken stellte ich fest, dass die Schatten wieder aufgetaucht waren. Doch als ich die Schatten fokussierte, erkannte ich, dass es nur die Blätter eines gewaltigen Baumes waren, die mein Sichtfeld vor der grellen Helligkeit der Sonne schützten. Zweige wurden vom Wind erfasst, der mit Gewalt versuchte, sie vom Stamm des Baumes fortzuziehen und ihrer Herr zu werden.

Aber wach wurde ich erst, als ein einziges, giftgrünes Blatt wie in Zeitlupe zu mir hinuntersegelte.

Ruckartig schoss ich in die Höhe. Das Blatt gehörte unverkennbar zu einer Linde, wie die Herz-Form bewies. Aber auf dem Ostfriedhof existierten keine Linden. Und zum jetzigen Zeitpunkt ebenso keine grünen Gewächse. Schließlich hatte der Herbst sich dieses Jahr bereits in seinen prächtigsten Farben gezeigt und jedes sommergrün seit Wochen vertrocknen lassen.

Und die Sonne... Diese weiße Sonne, die wirkte wie ein eisiger Planet ohne jegliches Leben. Wo befand ich mich nur?

Mein Blick glitt suchend umher, nach irgendeinem Orrientierungspunkt, aber an diesem Ort kam mir rein gar nichts bekannt vor. Ich saß auf einer kühlen, neu aufgeschütteten Schicht dunkler Erde, die wirkte, als hätte man sie vor nur wenigen Sekunden mit Wasser übergossen. Sie war feucht, das konnte ich deutlich spüren, als ich mit meinen Fingerkuppen sanft eine Hand voll durch meine Finger rinnen ließ.

Mir gegenüber befanden sich Gräberreihen. Als wäre ich tatsächlich noch dort, wo ich anscheinend gestern Abend gegen Mitternacht vor Jennas Grab gehockt hatte. Aber so war es nicht. Etwas stimmte nicht mit diesem Ort. Die Grabsteine bestanden aus glattem Granit und besaßen ohne Ausnahme die gleiche Form, wie die ihres daneben stehenden Nachbarn. Ein perfektes Viereck, makellos, ohne die geringste Spur von Gravuren oder Legenden. Nicht einmal ein einziger Name, keine einzige Jahreszahl.

Mühevoll stand ich auf und wäre unter meinem eigenen Gewicht beinahe zusammengebrochen. Vorsichtig stieg ich über die Kante aus hellem Marmor, die man um die Erde errichtet hatte. Für einen kurzen Moment hielt ich inne. Marmor... das Gestein, aus dem auch die Engeslstatue in der Nähe der Kapelle errichtet worden war.

Mein Kopf warf einen langen Blick über die Schulter. Ich hatte auf einem Grab gelegen. Einem neuen Grab, auf dem offensichtlich jemand frisch beerdigt wurde. Irritiert wich ich zurück, nachdem ich bemerkt hatte, dass die Grabplatte, die wie alle anderen ihr Grab bedecken sollte, zur Seite geschoben war und den Blick auf diesen trostlosen Haufen frei gab. Einsam. So wirkte dieser Anblick. Vor allem deswegen, weil dies das einzige Grab war, das tatsächlich vollkommen aus Marmor bestand, nicht wie die restlichen aus Granit. Zuerst konnte ich meinen Blick nicht davon abwenden, doch dann riss ich mich zusammen und wandte mich davon ab.

Was war nur passiert gestern Nacht? Was war geschehen, nachdem ich den Anhänger in die Einkerbung von Jennas Grabstein geschoben hatte?

Mein Blick schoss zurück zum Grabstein, obwohl ich mich gerade noch gezwungen hatte, ihn nicht unverhohlen anzustarren. Vielleicht existierte irgendeine Verbindung zwischen den Gräbern. Eine ähnliche Einkerbung, die den gleichen Zweck erfüllte, wie ihr Vorgänger. Dieser Friedhof könnte eine Parallele zum Ostfriedhof sein.

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