Ich verpasste die eigentliche Beerdigung, das Vergraben des Sargs. Den eigentlichen Abschied von Jenna aus meinem Leben. Mir stand nicht wirklich der Sinn danach, wie alle anderen den dunklen Holzkasten zu begaffen, als könnten sie immer noch nicht glauben, dass dieser Moment tatsächlich passierte. Als wäre er nicht nur ein verrücktes Hirngespinst oder ein wahrhaftiger Alptraum, der in unseren Köpfen wütete, wie ein Tornado über das weite Feld. Nein, es war voll und ganz real.
An meiner Sitzposition auf dem Sockel der Engelsstatue hatte sich nicht wirklich viel geändert, während ich mit geschlossenen Augen im Wechsel zuerst den fernen Worten des Pfarrers und schließlich dem leisen Flüstern der Blätter im Wind gelauscht hatte.
Dieser fand es anscheinend amüsant, aller fünf Sekunden nach den dunkelblonden Haarsträhnen meiner zerfallenen Frisur zu greifen, die nur noch notdürftig von einigen Haarklemmen zusammengehalten wurde. Aber all dies geschah in weiter Ferne. Denn ich war bereits tief gefallen in das immer währende Reich der vergessenen Erinnerungen und der zerschlagenen Träume, die sich allmählich ihren Weg zurück in mein Gedächtnis bahnten. Vergeblich versuchte ich, sie auszublenden, aber sie holten mich immer wieder ein und schoben jedes Mal die Bilder vor mein inneres Auge, die ich versuchte, zu verdrängen. Irgendwann musste ich erkennen, dass ich es nicht konnte. Dass ich anscheinend verdammt war, daran zu scheitern.
Langsam öffnete ich meine Augen und ließ die lustlosen Beine über der Kante des Sockels baumeln. Die Stille, die mich umgab, war beinahe ohrenbetäubend.
Vorsichtig setzte ich meine zitternden, nackten Füße auf den Boden und lief langsam über das grüne Gras, das sich regenfeucht unter meinen Füßen anfühlte, obwohl es den ganzen Tag trocken gewesen war.
Kurz nur spähte ich um die Ecke auf den Hinterhof des alten Gemäuers und erblickte die kleinen Gruppen, zu denen sich meine Verwandten aufgespaltet hatten. Ganz rechts erkannte ich meine Eltern, Gabriella und Lynn, wie sie angeregt in ein Gespräch vertieft waren und für einen Moment hielt ich konzentriert inne, um einige Gesprächsfetzen in mich aufnehmen zu können. Doch ihre Stimmen waren zu leise, als dass ich irgendetwas Bestimmtes hätte aufschnappen können und gerade, als ich meinte, mich von ihnen abwenden zu wollen, wandte Lynn ihren Kopf in meine Richtung und blickte mich unverhohlen und zugleich besorgt an, hielt mich in ihrem geweiteten Blick gefangen, sodass ich es nicht wagte, mich einfach um zudrehen und davon zu rennen, um einem Gespräch zwischen ihr und mir zu entgehen.
Kurz darauf ergriff sie das Wort an meine Eltern, die sich daraufhin einen vielsagenden Blick zuwarfen und dennoch zögerlich nickten, als müssten sie nicht lange über das nachdenken, was Lynn sie womöglich gerade gefragt hatte.
Ich wusste bereits, was es war, noch bevor Lynn sich aus der Gruppe löste und zielsicher auf mich zu marschierte. Ihr ernster Blick schlug mir entgegen, wie der Fahrtwind auf einem Segelschiff im offenen Meer. Einem grauen Meer unter einem bewölkten Himmel.
Hastig ließ ich von der Ecke ab, bevor mir meine Mutter, die Lynn mit gerunzelter Stirn hinterher blickte, mit einem bösen Blick begegnen konnte. Eng presste ich mich gegen das kalte Gestein und sank daran zu Boden. Finster beäugte ich das dreckige Gras und die umgeknickten Halme, die unter meinen Schuhen den Halt verloren hatten und sie erinnerten mich an jemanden, dem es ähnlich erging wie ihnen: mich. Denn auch ich hatte den Halt verloren. In der Realität.
Keine Sekunde später lugte Lynn unsicher um die Ecke der Kapelle und bedachte mich mit einem ausdruckslosen Blick, als könnte sie nicht begreifen, weshalb ich mich hinter der Kapelle in die Einsamkeit zurückzog. Selbstverständlich konnte sie das nicht. Meine Entscheidungen nachzuvollziehen, war noch nie ihre Stärke gewesen.
Im ersten Moment ignorierte ich sie, obwohl sie deutlich zu wissen schien, dass ich ihr Kommen eindeutig bemerkt hatte. Dennoch räusperte sie sich vernehmlich und obwohl ich es mir vorbehielt, nicht zu antworten oder sonstig zu reagieren, ließ sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
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Todestränen
Fantasy"Es war der Blick einer Kreatur der Nacht, so finster, wie der Abgrund, der sich in ihren Augen verbarg und so kalt, wie der Tod, den sie mir bereiten würde." Die 16-jährige Lavinia ist am Boden zerstört, als ihre Schwester Jenna aus unerklärlichen...