Jede Geschichte hat einen Anfang. Die meisten beginnen mit dem ersten Lachen eines Kindes. Doch oft liegt es an uns, wie wir den späteren Verlauf dieser Geschichte gestalten. Ob wir unser Leben dem Schicksal überlassen oder unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen, um irgendwann einmal dort zu stehen, wo wir uns sehen wollen. Jede Geschichte beinhaltet einen solchen glücklichen Moment, sei er auch noch so kurz oder unbedeutend für unsere Mitmenschen. Was zählt ist, dass wir selbst zufrieden sind, mit dem, was wir geleistet oder nicht geleistet haben und Tiefpunkte nutzen, um aus ihnen Erfahrungen zu sammeln. Und nach all diesen Erlebnissen, nach all diesen Momenten des Glücks und der Trauer, wissen wir, dass die Geschichte enden wird, dass sie abgeschlossen wurde. Wir wissen, sie hat existiert, genauso wie wir wissen, dass sie nie zurückkehren wird. Der Tod hat seinen langen Schatten über sie geworfen. Aber was er niemandem nehmen kann, sind die Erinnerungen an diese Lebensgeschichte, die Erinnerung, an die Person, die wir verloren haben. Und diese konnte er auch mir nicht nehmen.
Gedankenverloren stocherte ich mit dem Löffel in der Müslischale herum und starrte wie hypnotisiert zum Küchenfenster. Dunkle Wolken standen am Himmel und ließen ihren Tränen freien Lauf, sodass der Regen in einem gleichmäßigen Rhythmus gegen die Scheibe trommelte.
Es war Anfang Oktober und der Herbst zeigte sich hier in Winona, einer südöstlich gelegenen Stadt in Minnesota, von allen Seiten. Das regnerische Wetter trug außerdem nicht gerade dazu bei, meine Stimmung aufzuheitern. Diese hielt sich in den Morgenstunden der Wochentage sowieso schon im Keller auf, woran größtenteils die Schule Schuld hatte. Wenigstens konnte ich sie dank meiner besten Freundin Claire im Laufe des Tages ablegen. Claire und ich kannten uns schon seit der Middle School und waren vor mehr als einem Jahr gemeinsam auf die High School gewechselt. Mit ihr an meiner Seite fiel es mir nicht besonders schwer, den stressigen Schulalltag zu bewältigen.
Seufzend senkte ich den Blick auf meine Müslischüssel, in der ich nur noch die Milch übrig gelassen hatte. Mittlerweile schien es eine Angewohnheit zu sein, jedes Mal zu viel Milch für das Müsli zu opfern, was Mum auf Dauer nicht dulden würde.
Ich stellte die Schale auf der Anrichte ab, kurz bevor meine Mutter mit festen Schritten zur Tür hereinkam und nebenbei versuchte, ihren strengen Dutt mit einigen Haarklemmen zu richten. Sie trug ihre braunen, schulterlangen Haare eher selten offen, weil sie als Anwältin überall einen zuverlässigen und ordentlichen Eindruck hinterlassen wollte. Damit war sie das genaue Gegenteil von Dad. Er machte sich nicht viel aus den Meinungen der Leute und fand, wie er stets zu sagen pflegte: „Die Leute sehen eh nur das in Menschen, was sie sehen wollen."
So recht er damit auch hatte, manchmal wünschte ich mir, er würde sich nach seiner Arbeit als Koch in einem Restaurant zuerst umziehen, bevor er auf den Straßen mit seinen befleckten Hemden auftauchte. Aber das war eben seine Art.
Und Jenna, meine ältere Schwester, war sowohl ordentlich, als auch chaotisch. Mit neunzehn Jahren zog sie damals zusammen mit ihrem Freund Jordan in eine kleine Wohnung nahe der Innenstadt. Mittlerweile war sie einundzwanzig, wobei ich zugeben musste, dass mich ihre autoritäre, erwachsene Art als ihre kleine Schwester manchmal ziemlich nervte. Dennoch waren wir unzertrennlich und Jenna zog es nach wie vor zu unseren Feiertagsabenden, die ohne sie definitiv in einer Schweigerunde enden würden. So auch zu Thanksgiving, das uns in wenigen Tagen bevorstand.
Mum ging zielstrebigen Schrittes auf den Kühlschrank zu, zog die Tür weit auf und begutachtete unsere Einkäufe kritisch.
„Das ist doch wohl nicht sein Ernst", zischte sie ärgerlich und starrte fassungslos in das leere Gemüsefach. „Jeden Samstag einkaufen zu gehen und feststellen zu müssen, dass die Hälfte unserer Familieneinkäufe für das Ric's Diner drauf gegangen sind, bringt mich noch um den Verstand."
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Todestränen
Fantastik"Es war der Blick einer Kreatur der Nacht, so finster, wie der Abgrund, der sich in ihren Augen verbarg und so kalt, wie der Tod, den sie mir bereiten würde." Die 16-jährige Lavinia ist am Boden zerstört, als ihre Schwester Jenna aus unerklärlichen...