prologue

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Day 000

Es kostet viel Mut, sich selbst das Leben zu nehmen. Sich selbst dem Tod zu stellen. Ganz alleine die Entscheidung zwischen Leben und Tod zu treffen und sich für das Endgültige zu entscheiden. Dennoch ist der Tod nicht Böse, er war es nie. Er gibt uns die Freiheit, unser Elend zu beenden, doch was gibt er uns im Gegenzug? Verschwinden die Schmerzen des Lebens vollkommen? Verschwindet mit der Wärme des Körpers, mit unserer Seele, mit dem Blut, dass in unserem Herzen verdunstet, in unseren Adern, auch der Schmerz? Verschwinden die Erinnerungen? Was passiert dann?

Ich kenne die Antworten nicht, niemand kennt sie. Es ist etwas Unerklärliches. Etwas, bei dem auch die Wissenschaft uns nichts nützt. Es ist viel mehr und genau deswegen fürchten wir uns davor. Vor dem Ungewissen. Vor der Theorie, dass der Schmerz vielleicht nicht verschwindet, wenn wir uns für den Tod entscheiden.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken und starre Löcher in die Decke, wie Erwachsene immer zu sagen pflegen und knete sanft meine großen Hände, die auf meinen Oberschenkeln ruhten. Dachte sie, dass der Schmerz verschwinden würde? Vielleicht. Mein Blick flog zur Uhr, die oberhalb der Küchentüre an der gelben Wand hing, die ihre schöne weiße Farbe durch das jahrelange Rauchen in der Wohnung verloren hatte. Wie traurig.

Ich stellte fest, dass es nur noch eine halbe Stunde dauern würde, bis es soweit war. 13:31.

Ich umfasste meine Hände fester, bis sie sich schließlich ineinander verschränkten. Das Gefühl war abstoßend, wie sich die feuchte Haut aneinander rieb und sich gegeneinander bewegte. Ich war nicht nervös, doch es war verdammt stickig und warm in diesem Raum.

»Es wird gut laufen, ich verspreche es.«

Die raue Stimme meines gleichaltrigen Bruders riss mich aus meinen Gedanken und ich zuckte unter seiner Berührung zusammen. Ich brauchte einen kurzen Moment, bis ich mich an die kalte Hand auf der meinen gewöhnen konnte, doch ich blockte nicht ab. Dieses Mal nicht.

Leicht drehte ich meinen Kopf zur Seite und beobachtete das Profil meines Bruders, während er starr zur Haustüre sah. Er hatte dieselbe Haarfarbe wie ich, obsidianschwarzes, dickes Haar, dass zu allen Seiten abstand. Ich machte mir nichts aus meinen Haaren, sie sahen sowieso immer gleich aus, doch er ging alle zwei Wochen zum Friseur, sah am Ende aber trotzdem kein Stück besser aus. Oder anders.
Wir waren beide unnatürlich groß und breit, was normalerweise nicht so miteinander übereinstimmte. Die meisten Männer waren riesig, ähnelten dabei aber eher einem Stock, als einem bedrohlichen Kerl, der Ladendiebstähle als Hobby ausübte.

Ich starrte ihn weiterhin an. Eigentlich sahen wir exakt gleich aus, bis auf unsere Augenfarben. Meine glichen einem toxischen Grün, während seine farblos waren. Die inneren Seiten seiner Irden waren bläulich, doch es war schwer irgendwelche Farben aus seinen grauen Augen herauszufiltern. Aber es passte zu ihm.

Ich starrte ihn an. »Hör auf mir ein Versprechen zu geben, dass du nicht halten kannst, Reyk.« Mein Stimmton blieb vollkommen monoton und ich bewegte mich auch nicht. Ich fühlte nichts. Ich war nichts weiter als eine leere Hülle, die sich grau in der Gesellschaft bewegte und doch war ich anders. Das wurde mir wieder schlagartig bewusst, als es an der Türe klingelte. Mein Kopf schnellte zur Wanduhr. 13:54.

Reyk nahm seine Hand von der meinen, drückte seinen Körper seufzend vom teuren Sofa ab und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Es war bedrückend leer ohne ihn. Es fühlte sich so an, als wäre ich plötzlich in einem viel größeren, fremden Raum. Kalt. Bedrohlich. Aber ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, wie fremd ich mich in meinem eigentlichen zu Hause fühlte, denn mein Pflegevater schritt an mir vorbei, stieß mich leicht gegen die Schulter und sah seine Frau an, die zögernd vor der Haustüre stand und mich anstarrte.

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