Day 01098Trotz meines niedrigen Schmerzempfindens bewegte ich nur sanft meine Arme, um nicht in die vorhandenen Narben zu schneiden. Die Handschellen hatten mir schon mal gezeigt, dass ich sie nicht einmal unter den größten Schmerzen los wurde, nicht einmal dann, wenn das kalte Metall meine Haut und mein Fleisch zerfetzt hatte, bis es auf meine Knochen gestoßen war. Vielleicht hätte ich damals weitergezogen. Vielleicht hätte ich mir mehr als nur hässliche Narben zugezogen. Aber mein Körper hatte protestiert, alles ausgeschaltet und meine Handlungen eingeschränkt. Meine Erinnerungen verschwammen, denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich aufgehört nachzudenken. Ich weiß nicht, was passiert war, aber ich erinnerte mich nicht. Es war nichts da, an was ich mich hätte erinnern können. Meine Kindheit war da, teilweise, in einzelnen, zerbrochenen Teilen. Ich wollte sie nicht zusammensetzen, ich wollte nicht verstehen, wieso es so gekommen war.
Ein lautes Türknallen riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufschauen, wobei sich ein stechender Schmerz in meinem Nacken ausbreitete, da ich ihn nach langer Zeit wieder bewegte. Seltsamerweise hatte ich die letzte Stunde lediglich auf meine Handgelenke gestarrt, die mithilfe von Handschellen an meinen Stuhl gekettet waren.
Ein schlanker Junge war vor der geschlossenen Türe stehengeblieben, nachdem er sie hat knallen lassen und blickte geistesabwesend auf den Boden, bis einzelne, salzige Tränen ihren Weg platschend auf den Boden fanden. Platsch. Ich konnte es hören. Platsch. Nochmal. Platsch.
»Ist doch kein Grund zu weinen, Kleiner«, sprach ihn ihn an und musste grinsen, als er erschrocken von meinem lauten Ton, zusammenzuckte. »Mich hat sie auch abblitzen lassen.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen krallten sich die langen, angeschwollenen Finger des Jungen grob in seine dunkelblaue Jeans, dabei biss er fest die Zähne aufeinander und knirschte mit Ihnen, um seine Wut zu kontrollieren. Jedenfalls sah es so aus, als würde er gleich explodieren und jedes einzelne Objekt um ihn herum in Fetzen fliegen. Aber vielleicht waren es auch seine Adern, die unter seiner Haut pulsierten und in Vorschein traten, wobei sich seine Muskeln unglaublich anspannten. Ehrlich gesagt, überraschten mich seine nächsten Worte kein bisschen. »Halt die Fresse, Black. Ich rede nicht mit Soziopathen«, er blickte verächtlich auf meine Handgelenke, die fest an meinen Stuhl gekettet waren. »Oder mit Verrückten, die sich in der geschlossenen Abteilung aufhalten.« Er lächelte nicht, wie ich es in dieser Situation getan hätte. Er wandte den Blick ab, würdigte mich keinen weiteren Blickes und schritt emotionslos an mir vorbei, wobei er einen kleinen Bogen um mich machte.
Es brachte mich zum Lächeln.
»Wieso denn nicht?« Er hielt inne. »Hast du Angst, manipuliert zu werden?«
»Nein, er hält sich nur generell von Verrückten fern, um nicht selbst verrückt zu werden!«, fauchte eine laute Stimme und ich drehte meinen Kopf um 180 Grad, um wieder zur Türe zu schauen, an der ein Mädchen erschienen war. Ihre Haare waren lang, blond und so glatt und straff, wie ihre Haut. Ich hatte das Bedürfnis, diese Haare zu berühren, war mir meiner Einschränkungen aber deutlich bewusst. Würde ich versuchen, mich gegen die Handschellen zu wehren, wäre ich schneller in Behandlung, als mir lieb wäre. Aber würde ich versuchen, ein jüngeres Mädchen auch nur anzufassen, würde ich nie wieder einen lebendigen Menschen vor Augen geführt bekommen. Dies hatte mir Jorge angedroht, mit einer Furcht in den Augen, die mich hatte schmunzeln lassen.
Mein Blick wanderte weiter hinauf und ich stoppte an ihren hellbraunen Augen, die vor Wut Funken sprühten und zu brennen schienen. Interessant.
»Ich dachte, hier wären alle verrückt.« Während meiner Worte grinste ich nur noch breiter, um sie wütender zu machen, doch dies trat nicht ein. Sie blinzelte langsam, schritt ohne mit einer Wimper zu zucken an mir vorbei und packte den Jungen am Unterarm, um ihn um die Ecke zu ziehen.
»Wir sehen uns später bei der Gruppentherapie!«, rief ich ihr nach, doch sie zeigte mir nur den Mittelfinger und verschwand.

DU LIEST GERADE
Control
Mystery / Thriller»Soziopathie ist ein Begriff der angloamerikanischen Psychiatrie für eine psychiatrische Störung vor allem des Sozialverhaltens der Person.« »Das heißt?« »Ihr Sohn ist nicht in der Lage, sich in andere Personen hineinzuversetzen und ist auch nicht f...