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Day 01096

Das war sowas von unnötig. Es war lächerlich, nervig und seltsam, endlich den anderen Patienten gegenüber zu stehen. Ich meine, was hatte es für einen Sinn, mir die Probleme der anderen anzuhören? Ich konnte ihnen weder helfen, noch wollte ich ihnen helfen. Genauso wenig hatte ich eigene Probleme, von denen ich hätte erzählen können.

Entnervt beobachtete ich das klirrende, schimmernde Metall um meine Handgelenke und warf den beiden Pflegern frustrierte Blicke zu. Jetzt verstand ich, was der Kerl von gestern Morgen mit »zwingen« gemeint hatte. »Hören Sie, ich kann auch alleine laufen.«

Einer der Pfleger blickte mich kurz an, schüttelte dann energisch den Kopf und klopfte an einer großen Türe, die ich bisher nicht kannte. Soweit ich wusste, führte diese Türe zum Gemeinschaftsraum der Patienten, die in der geschlossenen Klinik herumsaßen und hier einige Aktivitäten ausüben konnten. Ich hatte nie vorgehabt, mich hier blicken zu lassen und hätte jedes Mal meine nervige Pflegerin mitschleppen müssen, die mir immer gerne mehrere Handschellen an das jeweilige Handgelenk anlegte. Die Türe war wirklich unglaublich groß und alles hier war aus einem hellen Holz, bis auf die schneeweißen Wände.

»Sind Sie bereit, Ralias?« Ohne ihm eine Antwort zu geben schoben sie die schwere Türe auf und vor uns breitete sich ein größerer Stuhlkreis aus. Jeder einzelne war besetzt, bis auf einen und zu meinem Bedauern wurde ich genau auf diesen gedrückt. Die Handschellen nahm mir der Größere der beiden ab und ich flüsterte grinsend ein leises Dankeschön, worauf er hilfesuchend in den Kreis sah und eilig aus dem Raum verschwand. Die große Türe wurde mit einem gedämpften Knallen geschlossen und ich musste nur meinen Kopf leicht anheben, um in eine der vielen Kameras an den Decken und Ecken dieses Raumes sehen zu können. Mehrere Lampen hingen fest an der weißen Decke, es gab weder Fenster noch einen anderen Ausgang, bis auf diese überdimensionale Türe.

Gelangweilt nahm ich mein linkes Handgelenk zwischen die Finger und strich einmal über die alten Narben, die entstanden waren, als ich mich damals gegen die Handschellen gewehrt hatte. Ich hatte ein ziemlich niedriges Schmerzgefühl, doch ich musste zugeben, etwas gebrannt hatte es schon.

»So, da nun alle anwesend sind, möchte ich diese Sitzung starten.« Mit einem Blick nach vorne bemerkte ich, wie mich die Hälfte des Kreises anstarrte, anstatt dem Kerl zuzuhören, der dem neuen Chef verdammt ähnlich sah. Eventuell Brüder, oder so.

Es waren hauptsächlich Mädchen anwesend, die einzigen Jungs waren ein Dunkelhäutiger, zwei Zwillinge, die direkt nebeneinander saßen und ihre Hände ineinander verschränkt hatten, ein Junge mit hellblauen Augen und schwarzen Haaren, und eben ich. Der seltsame Typ, mit den blauen Augen starrte mich unentwegt an, beugte sich zur Seite und flüsterte dem Mädchen neben sich zu, die mich danach ebenfalls anblickte, den Kopf schüttelte und wieder zu dem Therapeuten sah.

»Nun, wir haben heute zwei neue Patienten unter uns«, fing der Therapeut an und nickte energisch, als wolle er seine Worte bestätigen. Er wirkte unglaublich nervös und aufgedreht, als würde er gleich aufspringen wollen und aus dem nicht vorhandenen Fenster dieses Raumes springen, um sich in den unsicheren Tod zu stürzen. Ach ja, der Tod. Es war das einzige Thema, das ich bisher mit meinem Psychiater behandelt hatte, bis er nach der zweiten Sitzung den Patienten gewechselt hatte und ich jegliche weitere Sitzungen mit anderen Psychiatern verweigert hatte. Und bevor ich in meine Gedanken abschweifen konnte, bemerkte ich, wie mich der gesamte Kreis anstarrte und der seltsame Kerl in meine Richtung nickte. »Das ist Nathan Donovan und das neben ihm Ralias Black. Beide sind schon länger in dieser Klinik, nehmen jedoch das erste Mal unsere gemeinsame Hilfe in Anspruch!«
Feierlich klatschte er in die Hände, winkte uns einmal zu und wischte sich die Hände dann an der dunklen Jeans ab. »Ich bin Jorge!«

Langsam neigte ich meinen Kopf zur Seite und blickte gelangweilt in die Runde, ohne auf die nächsten Worte von Jorge zu achten, der seltsame Gesten mit seinen Händen vollbrachte und wild in die Luft rumfuchtelte, während er sprach. Nathan war also der blasse Junge mit den hellen Augen und den schwarzen Haaren. Er hatte nicht einmal aufgeblickt, betrachtete seine Hände, die unglaublich dünn wirkten und schielte gelegentlich zu seinen schwarzen Haaren hinauf, die ihm ins Gesicht hingen.

»Ich möchte euch nun einen Vergleich.. vorstellen«, meinte Jorge und sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Seine Lachfältchen verschwanden komplett, seine Augenbrauen lagen wie Striche über seinen Augen und sein Mund hing bewegungslos unter seiner Nase. Aus dem freundlichen und verrückten Therapeut war ein alter, ernster Anzugträger geworden, der dem Chef dieser Irrenanstalt in allen Punkten ähnelte. »Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Soziopathen und einem Psychopathen?«, fragte er monoton in die Runde und würdigte weder mir, noch Nathan einen einzigen Blick.

Die Hand eines Mädchens schoss in die Höhe, die einen Stuhl neben mir saß und nervös auf ihrem Hintern herumhüpfte. »Psychopathen haben keine Emotionen, empfinden keine Reue und haben meistens unterentwickelte Gehirnareale, die für Mitgefühl und die Impulskontrolle zuständig sind!« Das Mädchen fing an schnappend zu atmen, krallte sich in ihren Stuhl und bekam plötzlich Schluckauf.

Ich weiß nicht genau, wo ich hier gelandet war, aber hier gehörte ich nicht hin. Weder in eine Zelle, noch in die Gesellschaft.

»Goldrichtig, Leona!«, lobte er sie und blinzelte dann ganz langsam. »Soziopathen hingegen haben sogar sehr starke Gefühle, jedoch können sie diese nicht kontrollieren und haben meist schon von Grund auf einen abweisenden Charakter. Sie sind unglaublich gerissen und empfinden jedoch ebenfalls kein Mitgefühl oder Reue.« Mit diesen Worten hatte der Therapeut meine volle Aufmerksamkeit und dies schien er bemerkt zu haben, denn er klatschte mal wieder in die Hände. Ohne zur Seite sehen zu müssen, war mir klar, das Nathan zusammengezuckt war.

»Nathan Donovan! Erzählen Sie uns doch etwas über ihre Krankheit!« Dieser Kerl ähnelte nicht in kleinster Weise dem Mann, Jorge, den ich am Anfang dieser Stunde kennengelernt hatte. Er war wie alle anderen Psychiater auch - provozierend und unglaublich ignorant.

Alle Blicke des Raumes lagen auf dem Schwarzhaarigen, der sich keinen Zentimeter bewegte, doch seine Muskeln anspannte und sich am Stuhl festkrallte. Sein Blick war verdunkelt, als er aufsah und dem Psychiater direkt in die Augen blickte, der den Blickkontakt jedoch sofort unterbrach. »Diese beiden Patienten sind schon von vielen Kliniken zu neuen gewandert und schliesslich vor wenigen Wochen hier gelandet. Sie sind die einzigen dieser Gruppe, neben Lilith und Alec, die in der Geschlossenen wohnen werden.« Plötzlich klatschte der Verrückte wieder enthusiastisch in die Hände und lächelte so breit, dass ich dachte, seine Haut würde unter der Spannung gleich reißen.

Die nächste Frage ging an mich. »Ralias, wieso sind Sie hier?« Es war nicht möglich, den Menschen ernst zu nehmen, der sich nicht für eine Stimmung entscheiden konnte, einfach loslachte und so oft in die Hände klatsche, als würde er für etwas nicht existentes applaudieren.

Das einzige, was ich tat, war den Kopf schief zu legen und ihn anzugrinsen. Ich wollte nicht reden, ich wollte nicht hier sein. Ich hatte hier nichts zu suchen. Aber das wusste er bereits. Niemand wollte hier sein, doch wir mussten. Weil sie es so gewollt hatten. Es so gewollt hätten.

»Nun, genau das ist das Verhalten eines Soziopathen. Er versucht nun, mich mit einem einfachen Blick zu manipulieren.«

Augenblicklich verschwand mein Grinsen und ich verengte meine Augen zu Schlitzen. Ich hatte nie vorgehabt, ihn in irgendeiner Weise zu manipulieren. Ich hatte nie vorgehabt, irgendwen zu manipulieren. Es war wie ein Instinkt, es fühlte sich richtig an, das jetzt zu tun - weshalb ich dies auch tat. Wie eine seltsame Stimme, als würden alle meine Emotionen mit einem mal auf mich einschreien stand ich ruckartig auf und schmiss dabei meinen Stuhl um. Er landete mit einem lauten Knallen auf dem kalten Fließboden und ich hörte das panische Keuchen der anderen Patienten nicht. Nur die kleine Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass ich ihn zum Schweigen bringen sollte.

Und das tat ich auch.

ControlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt