In the Depths of Despair

30 2 0
                                    

○ ● ○

Zwei Tage später suchte Leonore Viscount Stratton in seiner Stadtwohnung auf, obwohl es sich für eine junge Dame nicht geziemte, einem Junggesellen ohne jegliche Begleitung in seinem Haus die Aufwartung zu machen.

Leonore achtete jedoch darauf, dass sie von niemandem gesehen wurde und hatte auch nicht die Kutsche ihrer Tante für die Fahrt benutzt, sondern eine unauffällige Mietdroschke.

Sie traf um kurz nach zehn ein, der Gentleman war jedoch wie erwartet noch nicht aufgestanden, und Leonore musste zwei Stunden auf sein Erscheinen warten. Die Morgentoilette eines Lebemannes erforderte wohl mehr Zeit, als Leonore angenommen hatte. Dafür wurde sie mit dem Anblick eines perfekt hergerichteten Gentlemans belohnt. Von den Spitzen seiner gepflegten dunkelbraunen Haare über den Brokathausmantel zu den glänzend polierten Schuhen war Viscount Stratton das Abbild eines tonangebenden Mitgliedes der feinen Gesellschaft. In ihrem dunkelgrauen Reisekleid, das sie aus ihrer alten Garderobe übergezogen hatte, fröstelte Leonore beim Anblick des Freundes ihres zukünftigen Gemahls. Des Mannes, der ihr eine Ehefalle gestellt hatte, weil sie zufälligerweise die Anforderungen erfüllte, die eine ungeliebte und abgeschobene Ehefrau auszumachen schienen.

„Lady Harper, welche Überraschung! Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, wenn ich fragen darf?"

Charles ging auf sie zu und wollte sie mit Handkuss begrüßen, doch sie wehrte ihn ab, indem sie die behandschuhte Hand hob und einen Schritt vor ihm zurückwich.

„Ich denke, es ist nicht nötig, dass wir uns mit Nettigkeiten aufhalten. Hier!", sagte sie knapp mit mühsam beherrschter Stimme.

Leonore reichte ihm einen Umschlag, den er verwirrt annahm und öffnete. Er starrte sie sprachlos an, als er ein Bündel Geldscheine darin entdeckt hatte.

„Warum überreichen Sie mir Geld?", fragte er überrascht, ohne die Summe zu zählen, weil es einfach absurd war, von einer Dame, die noch dazu die Verlobte seines Freundes war, Geld anzunehmen.

Charles betrachtete Lady Harper zum ersten Mal nicht als Figur in einem amüsanten Spiel, sondern als Menschen. Er bemerkte ihre Blässe, die dunklen Ringe unter den Augen und den schmerzerfüllten Blick.

„Es sind genau fünftausend Guineen, ich denke, Sie werden den passenden Gebrauch davon machen. Ich überhörte gestern Abend Ihr Gespräch mit Lady Estelle, Sie brauchen also nicht zu leugnen."

Leonore hob ihren anklagenden Blick zu ihm an, was sie unter anderen Umständen kaum gewagt hätte.

Charles schluckte und sein Gewissen begann sich zu regen, er provozierte gerne, genoss den verbalen Kampf und den Sieg gegen seine Gegner, aber nicht den Triumph über Schwächere, die sich nicht zu wehren vermochten. Diese bittere Erfahrung hatte er selbst schon zu oft am eigenen Leibe erfahren müssen, dass er niemals so tief gefallen war. Oder doch? Trug er nicht die Mitverantwortung für die Geschehnisse?

„Ich kann das nicht annehmen, Mylady. Sie hätten davon nie erfahren dürfen, es tut mir leid.", sagte er strenger als beabsichtigt, weil ihre Handlung schlichtweg ungehörig war.

Lady Harper hätte niemals davon erfahren dürfen. Er verfluchte sein loses Mundwerk, auch wenn er nicht ahnen hatte können, dass die Verlobte seines Freundes sie bei dem Gespräch belauscht hatte.

Er dachte einen Augenblick, die junge Dame würde ohnmächtig werden, aber sie hielt sich aufrecht, obwohl die Blässe ihres Gesichts beängstigend war. Es war, als von Minute zu Minute mehr Leben aus ihr entweichen.

„Wagen Sie es ja nicht von Ehrenschulden zu sprechen, denn das Ganze hat nichts mit Ehre zu tun! Nehmen Sie es ruhig, wir werden uns nicht mehr sehen, wenn der Earl of Henley mich auf seinen Landsitz verbannt. Ich wollte es zuerst ihm geben, aber was hätte das für einen Sinn? Ich werde demnächst seine Frau sein, also gehört das Geld bald ihm. Betrachten Sie es als Ironie des Schicksals. Sie bezahlen ihre Wettschulden mit seinem eigenen Geld, das müssten Sie doch besonders amüsant finden!", schloss sie mit einem bitteren Unterton.

Bet the Lion and tame the BeastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt