1. Kapitel

1.7K 138 179
                                    

Schnaubend wuchte ich den schweren Koffer unsere enge Treppe hinunter. Es grenzt an ein Wunder, dass ich es heil bis nach unten schaffe. Mit einem letzten anklagenden Blick lasse ich das Ungetüm im Flur zurück und schlage den Weg zur Küche ein. Nachdem ich zehn Minuten lang suchen muss um den Karton mit den Gläsern zu finden, fülle ich eines von Mums wertvollen Kristallgläsern mit Leitungswasser und stürze kurzerhand den gesamten Inhalt auf einmal hinunter. Mit einem zufriedenen Seufzer spüle ich es kurz ab und lasse es anschließend wieder in einen der unzähligen Umzugskartons verschwinden, die sich im ganzen Haus stapeln.

Wehmut erfüllt mich, als ich an der Arbeitsfläche gelehnt, meinen Blick durch die Küche schweifen lasse. Sie sieht leer aus. Leblos. Den Esstisch, welchen mein Vater in mühsamer Arbeit selbst gezimmert hatte, wurde bereits von den Möbelpackern abgeholt. Die Stühle sind ebenfalls schon verschwunden.

Als mir Tränen in die Augen steigen, schlucke ich sie krampfhaft wieder runter. Ich habe mir geschworen, nicht mehr zu weinen. Viel zu tief habe ich in den vergangenen Wochen in meiner Trauer gesteckt. Doch damit soll nun Schluss sein. Ich werde nicht länger in der Vergangenheit leben. Und deshalb habe ich mich auch entschlossen, zu meiner Tante Liz zu ziehen. Mir schnürt sich zwar alleine bei dem Gedanken, Anja und meine gewohnte Umgebung hinter mir zu lassen, die Kehle zu, aber mein Entschluss steht fest. Es würde nichts mehr bringen, länger hier zu bleiben. An dem Ort an dem ich jeden Tag aufs Neue an meine schreckliche Vergangenheit erinnert werde.

Seit ich und Anja vor knapp einem Monat zurückgekehrt sind, herrscht Funkstille zwischen uns und der magischen Welt. Was mir nur recht sein soll. Schließlich will ich auch nichts mehr mit diesen arroganten, besserwisserischen Wesen zu tun haben. Sollen sie ihre Probleme doch selbst in den Griff bekommen, ich werde keinen Finger mehr rühren.

"Cleo?", die Stimme meiner besten Freundin reißt mich aus meinen trüben Gedanken.

"Ich bin hier.", antworte ich noch immer etwas benommen und richte mich auf, als Anja den beinahe leeren Raum betritt.

Sie sieht mich an, als müsste sie alles an Beherrschung zusammennehmen um nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Ganz nahe tritt sie an mich heran und sieht mit einem verdächtigen Glitzern in ihren braunen Augen zu mir auf. Kurz räuspert sie sich, bevor sie mit zitternder Stimme zu sprechen beginnt.

"Bist du bereit? Der Flug geht bald."

Ja, bin ich denn bereit? Plötzliche Zweifel machen sich in mir breit. Was, wenn ich mich mit meiner Tante nicht verstehen werde? Schließlich habe ich sie seit gut zehn Jahren nicht mehr gesehen, sie ist also beinahe eine Fremde für mich. Doch ich schiebe alle Unsicherheiten von mir und nicke stattdessen mechanisch. In Anjas geweiteten Augen erlischt bei meiner Kopfbewegung der letzte Funke Hoffnung. Mit hängenden Schultern marschiert sie vor mir auf die Tür zu.

Mir steht bereits nach wenigen Metern, in denen ich meinen Koffer den Kiesweg entlang in Richtung Auto geschleppt habe, der Schweiß auf der Stirn. Für Anfang September ist es nach wie vor unwahrscheinlich heiß. Da helfen noch nicht einmal Top und Shorts dagegen. Schwer atmend wuchte ich bei Anjas Auto angekommen meine Sachen in ihren Kofferraum. Das Klacken, das beim Schließen des Deckels ertönt, klingt endgültig.

Schwermütig werfe ich einen letzten Blick auf mein ehemaliges zu Hause, mein Leben das ab jetzt in eine vollkommen andere Richtung weiterlaufen wird. Und ich habe Angst. Schreckliche Angst. Doch ich verdränge sie, sperre sie ein und werfe den Schlüssel weg. Cyrian hätte nicht gewollt, dass ich mein Leben einfach so wegwerfe. Als mir sein Name in den Sinn kommt, schnürt sich mir erneut die Kehle zu. Kopfschüttelnd wende ich mich ab und lasse mich auf den Beifahrersitz von Anjas Toyota sinken.

"Du musst mir jeden Tag schreiben und mich mindestens einmal die Woche anrufen, hörst du?", bricht sie nach der halben Strecke zum Flughafen plötzlich die Stille.

Das Kind der Götter - OzeanblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt