Nordwind mit Liebe

26 4 2
                                    

Wie immer wird die Klasse schon vor dem Schulgong laut; das ist hier in Italien auch nicht anders als zuhause in Deutschland. Ich würde durchaus sagen, dass ich in den zwei Monaten, die ich bis jetzt hier war, sehr viel gelernt habe, nicht nur die Sprache betreffend. Links neben mir fängt meine Austauschschülerin an zu singen: „Lasciate mi cantare con la chitarra in mane..." Ich muss grinsen und packe mein Zeug in die Tasche. Immerhin ein freier Tag, denn die italienischen Schulen unterrichten auch Samstags – dafür gibt es keinen Nachmittagsunterricht. In Deutschland haben sie jetzt Ferien. Ein wenig neidisch bin ich schon.

„Was machen wir dieses Wochenende?", erkundige ich mich bei ihr und schlüpfe in meine Jacke. Diesen Februar ist es so kalt, wie schon lange nicht mehr.

„Heute Abend gehe ich feiern, willst du mit? Und Sonntag geht es mal wieder zu Nonna.", antwortet sie mir. „Klar komme ich mit!", grinse ich und füge an die Lehrerin gewandt ein „Buona giornata!" hinzu.


Ich stelle mich in die Tür und warte auf Nicole. Mein Blick schweift über all die fröhlichen Schüler auf dem Gang, die mit ihren Freunden auf den Ausgang der Schule zustreben. Mit einem Schlag wird mir klar, wie sehr ich meine Freunde in Deutschland vermisse. Sicher, hier sind alle super-nett zu mir. Aber es geht wohl nichts über die Freunde, die dich wirklich kennen und mit denen du über alles reden kannst. Am anderen Ende des Gangs entdecke ich einen Jungen, der mich aufgrund seiner Haare verdammt an Oskar erinnert. Das gibt mir den Rest und die Tränen steigen mir in die Augen. Oskar ist der Junge, den ich seit über zwei Jahren liebe. Ich habe gehofft, dass meine Gefühle während der drei Monate schwinden werden; aber immer öfter spüre ich, dass ich nicht von ihm loskommen kann. Ich liebe ihn und das weiß so gut wie jeder aus der Jahrgangsstufe. Auch Oskar. Aber es ist wohl offensichtlich, dass er mich nicht liebt; er hat sich vor den Weihnachtsferien nicht mal von mir verabschiedet. Geschweige denn sich seitdem bei mir gemeldet. Als ich ihm „Frohe Weihnachten", „Frohes Neujahr" und „Happy Birthday" gewünscht habe, hat er immer nur kurz angebunden „Dir auch" geantwortet. Ok, bei dem Geburtstagswunsch natürlich nicht. Da war es dann ein schlichtes „Danke". Etwas anderes habe ich noch nicht von ihm gehört. Ich habe meine Freundin Miranda beauftragt mir zu sagen, wenn er sich die Haare geschnitten hat, aber sie hat sich noch nicht gemeldet. Gott sei Dank, er sieht nämlich wirklich ziemlich schlimm aus, wenn er seine Fast-Glatze-Frisur hat. Um nicht zu sagen, er sieht scheiße aus. Nicht, dass ich ihn dann weniger liebe, nein. Es ist halt einfach nicht hübsch.

Der Junge nimmt seinen Kaffeebecher aus dem Automaten und dreht sich um.
Es ist Oskar.


Als würde er meinen starrenden Blick spüren, hebt er seinen Kopf und blickt mich direkt an. Ich denke nicht. Ich schaue nur. Erst als eine Schülerin mir die Sicht auf Oskar versperrt, beginnt die Supernova in meinem Gehirn ins Rollen zu kommen. Plötzlich ist mein Kopf voller Fragen und mir wird für einen Moment schwindelig.

Was macht er hier? Ist er das wirklich? Wie konnte ich meine Sehnsucht nach ihm so lange unterdrücken? Will er mich sehen? Ist er wegen mir hier? Wie konnte ich vergessen, wie hübsch er ist? Habe ich ihn nicht irgendwie kleiner in Erinnerung? Hat er sich geändert? Trägt er die Klamotten immer noch so, wie früher?

Die letzte Frage kann ich jetzt beantworten. Ja. Es sieht immer noch so aus, als ob er blind in den Schrank gegriffen hätte.

Er hat sich in Bewegung gesetzt und kämpft gegen den Schülerstrom an. Neben mir taucht Nicole auf und ihr Blick folgt Meinem. „Vai!", sagt sie. Geh! Ich atme tief ein und tauche ein in den Fluss der Schüler. Noch bevor ich überlegen kann, was ich ihm sagen könnte, steht er plötzlich direkt vor mir. So plötzlich und direkt, dass ich gegen ihn laufe. Ohne ein Wort umarmt er mich und ich lege meine Arme um seinen Oberkörper. Er ist wirklich ein ganzes Stück gewachsen. Er umfasst meine Schultern mit seinen großen Händen und schiebt mich ein kleines Stück von ihm weg; gerade so weit, dass er mir in die Augen schauen kann. Mir wird heiß und ich will gerade meinen Blick abwenden, als er leise sagt: „Ich habe dich vermisst." Seine Stimme. Mir wird noch heißer und ich habe keine Ahnung, was ich ihm antworten soll. So oft hatte er die Möglichkeit, auch nur irgendwie nett zu sein. Seine braunen Augen strahlen. So oft hat er mir das Herz gebrochen. In meinen Augen stehen Tränen. So oft habe ich seinetwegen geweint. Er lächelt mich an. So wenig will ich vor ihm Schwäche zeigen. „Wer wirklich vermisst, der meldet sich.", flüstere ich verbittert mit brüchiger Stimme. Seine Augen leuchten nicht mehr, das Lächeln ist wie weggewischt. Aber er schaut mich immer noch unverwandt an. Er öffnet seinen Mund. Schließt ihn wieder. Ein vorsichtiges Lächeln umspielt seine Mundwinkel, als er erwidert: „Ich habe mich gemeldet. Fünf Tage die Woche, jede Schulstunde." Wie kann er jetzt scherzen? Wie kann er mich schon wieder so verarschen? Für einen Moment habe ich gedacht, er meint es ernst. Jetzt ist die Enttäuschung umso größer. Sein rechter Daumen streift meinen Hals und auf meinem ganzen Körper breitet sich Gänsehaut aus. Zusammenreißen! Ich darf jetzt wirklich nicht nachgeben, ihm verzeihen und dastehen wie der letzte Dreck ohne Gefühle.

Seine sonst so sanften braunen Augen blicken tief in meine und scheinen bis in mein Herz zu schauen. Gruselig und doch fühlt es sich gut an. „Ich habe dich wirklich vermisst.", flüstert Oskar „Deshalb habe ich mich nicht gemeldet. Weil ich dieses Gefühl nicht gekannt habe."

Sein Blick scheint alles Schlechte aus meinem Herzen zu wischen.

Die Schüler laufen an uns vorbei, als wären wir ein Fels im reißenden Fluss. Mittendrin und doch ganz für uns.

Kurz bevor seine Lippen Meine berühren, haucht er noch:



„Die Liebe."



----------

Ist euch schon mal jemand ins Leben geweht, den ihr nicht mehr vergessen könnt?

Care - Kurzgeschichten & MehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt