Ich saß auf meinem Platz, auf dem ich immer saß. Der Zug ratterte über die Schienen, wie er immer ratterte. Ich starrte auf die vorbeiziehenden Büsche, Bäume und Felder, wie ich es immer tat. Der Zug fuhr eine Rechtskurve, schlängelte sich an einem Fischteich vorbei, wie er immer fuhr. Im Grunde genommen war alles so wie immer, an diesem Montagmorgen vor Schulbeginn und doch war etwas verwirrend. Mir war nicht klar, was heute den Unterschied machte, aber etwas war definitiv anders. Ich musterte die Menschenmasse in den überfüllten Zuggängen, beobachtete die Poledancer, zwei Mädchen, die sich an den Stangen festhielten anstatt sich in einem anderen Abteil freie Sitze zu suchen. Ich bemerkte den Schlafbeutel, einen Jungen, der wie immer mit verschlafenem Blick und tiefen Augenringen hinten in der Ecke döste. Ich nahm den Cooltuer wahr, der sein leuchtendes Handy in der morgendlichen Dunkelheit explizit in den Gang hielt, damit jeder sehen konnte, was für teure Dinge er sich leisten konnte. Ich erblickte die Leseratte, die wieder einmal mit einem dicken Roman und übereinander geschlagenen Beinen gegenüber der Träumerin saß, welche - wie immer - mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt raus blickte und mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein schien. Mein Blick fiel auf die Turteltäubchen, die zwar unsterblich ineinander verliebt waren, es aber niemals würden zugeben wollen. Meine Augen wanderten weiter, über das Covergirl mit den ausgefallenen Klamotten und der eleganten Hochsteckfrisur, den Nerd mit dem vermutlich von Oma gestrickten Wollkragenpullover, der Hornbrille und mit Pomenade geglättetem Haar, bis hin zu dem Informatiker, der immer und immerzu auf die Tastatur seines Laptops einhämmerte. Ihm gegenüber erkannte ich den einzigen erwachsenen Menschen dieses Abteils, den Englischstudenten, der mehrsprachige Selbstgespräche führte, die allerdings in dem aufgeregten Gebrabbel der Zwillinge untergingen, die aufgeregt in der neusten Ausgabe der Bravo blätterten.
Zu guter Letzt erfasse ich das Mädchen. Den ganzen Zug habe ich nach dieser winzigen Veränderung abgesucht und dort sitzt sie, mir gegenüber, am anderen Ende des Abteils und blickt mir direkt ins Gesicht. Die Neue. Ein Mädchen wie ich, mit nichts beschäftigt als dem kommentarlosen Beobachten der Leute.Gleichzeitig erheben wir uns mit einem Lächeln im Gesicht und gehen langsam aufeinander zu.
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Care - Kurzgeschichten & Mehr
Short StoryHier will ich so kleines Zeugs wie Kurzgeschichten und Gedichte hochladen. Nichts regelmäßiges also! Wenn ihr irgendwelche Ideen habt, was ich umsetzen sollte, könnt ihr mich gerne damit nerven, ich würde mich freuen!^^