Kapitel 5 - Die Lichtung (Leseprobe)

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Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und trug das Chaos in seinem Kopf in die Wälder hinaus. Fabien hatte es nicht mehr ausgehalten. Er hatte es nicht länger ertragen können, in der Burg herumzusitzen und darauf zu warten, dass Merindor ihn jeden Moment damit konfrontieren konnte, sich für einen seiner Söhne zu entscheiden, was den sicheren Tod des anderen bedeuten würde. Zu allem Überfluss hatte ihn auch noch die Magd Amalia dabei ertappt, wie er weinend vor dem Gemach seiner Liebsten zusammengebrochen war. Nachdem er Eralie endlich die Wahrheit gesagt hatte, war ihm eine riesen Last von den Schultern gefallen, jedoch nur, damit er wenig später darüber stolpern konnte, um mit dem Gesicht im Dreck zu landen.

Inzwischen ritt Fabien schon seit Stunden ziellos durch die Gegend – über die grünen Hügel des Tals und entlang an den Bergen Mormoras, die schützend hinter Aalsahir lagen. Auf einer Lichtung brachte er seine Stute zum Stehen und hielt für einen Moment inne. Er schloss die Augen und sog die frische Luft ein. Das Pferd schnaubte und stapfte ungeduldig mit den Hufen, als wolle es Fabien dazu auffordern, weiterzureiten. Ein Blick nach oben hielt ihn aber davon ab. Dunkle Wolken breiteten sich wie eine Armee am Himmel aus und begannen schon damit, die Abendsonne zu überrennen. Um nicht hier draußen von einem Gewitter überrascht zu werden, entschied er sich, umzukehren. Er zog die Zügel straff und ließ sein Pferd durch den Wald zurückgaloppieren, schon bald spürte er die ersten kalten Tropfen auf seiner Haut. Das Donnern in seinem Rücken wurde lauter und schien mit jedem Schlag näher zu kommen. Er trieb seine Stute weiter an und war in vollem Galopp, als urplötzlich jemand vor ihm zwischen den Bäumen auftauchte.

»Vorsicht!«, schrie Fabien und versuchte mit aller Kraft, die Zügel herumzureißen – zu spät.

Das Pferd streifte den stolpernden Jungen und riss ihn zu Boden. Fabien brachte das Tier zum Stehen und blickte zurück auf den Fremden, der reglos auf der Erde lag. Er wurde nervös. Wo war der Knabe auf einmal hergekommen? Ein Gedanke, der ihn dazu drängte, einfach weiterzureiten, blitzte kurz auf. Doch er konnte es nicht. Er schämte sich dafür, überhaupt erst daran gedacht zu haben. Was, wenn der Junge wegen ihm hier draußen starb? Wieder brachte ein dumpfes Donnergrollen den Boden zum Beben, der aufkommende Wind peitschte ihm ins Gesicht. Obwohl das Unwetter unaufhaltsam näher kam, stieg er vom Pferd und schlich sich langsam an den Fremden heran. Hatte er den Aufprall überlebt? Fabien hatte Angst und hoffte, dass sich der Knabe endlich bewegte oder etwas von sich gab. Zögerlich ging er die letzten Schritte auf ihn zu und versuchte, ihm ein Lebenszeichen zu entlocken: »Bist du verletzt?«

Keine Antwort.

Hatte der Junge ihn bei dem tosenden Rauschen des Windes überhaupt gehört? Er wollte gerade noch einmal rufen, als der Bursche sich regte. Fabien war erleichtert, zu sehen, dass er stöhnend versuchte, sich aufzurichten und eilte ihm sofort zu Hilfe. Von dem Prinzen gestützt hievte er sich auf und streifte das feuchte Laub von seinem dunklen Mantel.

»Seid unbesorgt, mein Herr. Es geht mir gut. Ich hätte nicht blind Euren Weg kreuzen dürfen«, sagte der Junge mit zitternder Stimme.

Im selben Moment zog ein Rascheln in den Büschen Fabiens Aufmerksamkeit auf sich. Hatte sich dort eben etwas bewegt?

»Bist du allein?«, fragte er, weiterhin die Umgebung beobachtend, bevor er den Jungen musterte und sah, wie er hastig nickte und verstört zitterte.

»Ja. Ja, ich bin allein.«

Er zog sich die Kapuze zurecht und nestelte an einem alten Stück Papier herum. Fabien beschlich auf einmal das Gefühl, ihn schonmal gesehen zu haben – in Aalsahir. Er duckte sich ein wenig und kniff die Augen zusammen. »Philian? Bist du das?«

»Prinz Fabien«, stieß auch der Junge überrascht aus und setzte zu einer kleinen Verbeugung an.

Es war tatsächlich einer von Merindors Adeptari, der fernab Aalsahirs durch die Wälder irrte. Fabien sah in durchdringend an. »Warum treibst du dich hier draußen rum?« Er schmunzelte ein wenig. »Du hast dich ganz schön weit von der Stadt entfernt, mein Junge.«

Yalims Erbe - Die Auserwählten (Band I) LESEPROBE (NEU 2021)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt