„Veni Sancte Spiritus, Veni Sancte Spiritus...", leierte es aus meinen Walkman, einen tragbaren Kassettenspieler, der zu meiner Jugendzeit dem heutigen MP3-Player entsprach. Es war Herbst geworden und das Laub der riesigen Eichen auf dem Grundstück meines Elternhauses musste zusammengekehrt und in Säcke gefüllt werden. Es war ein guter Tag für diese Arbeit - die Sonne schien und das Laub war trocken geworden.
»Was hörst du denn da?«, fragte mein Bruder, der eben so wie ich mit geringer Begeisterung der Gartenarbeit nachkam. Leicht verlegen antwortete ich: »Ach, ein paar Lieder aus Taizé...«
Wie erwartet, quittierte er meine Antwort mit einem spöttischen »Tzzz« und schüttelte den Kopf. Tapfer und vermutlich leicht errötet, wandte ich mich dem Laubhaufen zu und füllte den nächsten großen Torfsack mit Laub.
Das Hören der Lieder aus dem bekannten ökumenischen Männerorden, der Communauté de Taizé, passte nicht wirklich zu meiner Weltanschauung. »Ich muss schon ein bisschen verrückt sein«, dachte ich. »Warum beschäftige ich mich überhaupt mit diesem Zeug?«
Ebenso unpassend war wohl auch das Gespräch mit einer Religionslehrerin aus einem Parallelkurs: Sie hatte in ihrem Unterricht den ontologischen Gottesbeweis von Anselm von Canterbury behandelt. Nachdem ich mir diesen angeschaut hatte, ging ich kurzerhand zu ihr, eine mir fremden Lehrerin, und erklärte, dass der Beweis nichts taugte. Er sei widersprüchlich, zumindest wenn man den durch die Bibel beschriebenen Gott damit beweisen wolle. Anselm ginge bei dem Begriff »Gott« von demjenigen aus, »worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«. Da ich die Bibel stellenweise kannte, fiel mir dazu ein Textfetzen ein:
»... Gott ist Licht [das Gute] und in ihm ist keine Finsternis [nichts Böses]...« (1.Johannes 1,5).
Entsprechen müsse ein »Gott«, »worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«, auch Finsternis (also Böses) beinhalten, denn ein Gott, der das Gute und das Böse umfasse, sei größer als ein Gott, der nur Gutes in sich habe. Der Gott der Bibel sei nur Licht und auch immer nur Licht, wie man an anderer Stelle (Jakobus 1,17) lesen könne. Also könne man ihn mit Anselms Gottesbeweis nicht beweisen. Was mir die Lehrerin darauf hin entgegnete, weiß ich heute nicht mehr. Ich glaube, sie konnte mir nicht folgen. Daraufhin gab ich ihr meine Überlegungen nochmal schriftlich. Aber natürlich sah ich mich als Sieger in diesem Disput.
Bei all meinen Streitgesprächen ging es natürlich nicht nur um den Glauben, sondern auch um die Frage nach dem Ursprung der Welt. Genauso wie heute, spielte dabei die Evolutionstheorie eine große Rolle.
Mich interessierte das Thema so sehr, dass ich deswegen in der gymnasialen Oberstufe ein Schulhalbjahr lang zusätzlich Biologieunterricht nahm. »Freiwillig zusätzlichen Unterricht? Hast du sie nicht alle?«, stöhnte ein Mitschüler, als ob allein der Gedanke daran ihm körperliche Qualen bereiten würde. Erst später sollte sich zeigen, dass dieser Extraunterricht sich als dienlich erweisen sollte...
»Laudate omnes gentes...« dröhnte es in meinen Ohren, eins der beliebtesten Taizélieder überhaupt. Mir, dem Verfechter des »freien Denkens«! Wie kam es zu diesem paradoxen Verhalten?
Nach einer der zahlreichen »Weltanschauungsdebatten« lud mich ein Mitschüler ein mit nach Taizé zu kommen: Schlechtes Essen, kalte Duschen, fürchterliche Toiletten und drei Gottesdienste pro Tag würden mich erwarten. Aber die Stimmung und Gemeinschaft mit Jugendlichen aus der ganzen Welt seien einzigartig. Und natürlich Unmengen von hübschen Mädchen gebe es auch. Da die entsprechenden Frankreichfahrten, die ein Pastor aus der Nähe von Hamburg organisierte, zudem recht günstig waren, willigte ich ein. Die Aussicht auf viele interessante Gespräche war ebenfalls bestechend. Auch fuhren mehrere Freunde dorthin und in der Tat wurde mein Taizé-Aufenthalt zu einer großartigen Zeit, einer einzigartigen Erinnerung, die ich auch heute noch, nach über zwei Jahrzehnten, mir bewahrt habe. Leider blieb für mich der Glaube weiterhin ein »Buch mit sieben Siegeln«.
Es muss auch in dieser Zeit gewesen sein, als ich den Ausdruck »fehlende Antenne« zum ersten Mal verwendete. Er sollte zum Ausdruck bringen, dass ich einfach nicht in der Lage war, »Gottes Nähe«, seinen »Geist« oder was auch immer diese gläubigen Menschen fühlten, zu empfangen. Ihr Denken und Empfinden waren fremd für mich. Sie mussten eine Antenne haben, die mir fehlte.
Während ich begann, den nächsten Haufen zusammenzuhaken und »Nada te turbe...«, »Bleibet hier und wachet mit mir...« zum x-mal vor sich hin dudelte, kreisten meine Gedanken um die Fragen: »Warum kann ich nicht glauben? Warum fällt es mir so schwer an einen Gott zu glauben? Kann ich seine Existenz ausschließen?«
Mit einen hässlichen Klicken schaltete sich mein Walkman aus. Es wurde Zeit die Kassette umzudrehen, um die zweite Seite abzuspielen. Sie war ebenfalls mit verschiedenen, wenn auch nicht so populären, Taizélieder bespielt. Während ich aus der Jackentasche das Abspielgerät herausnestelte, kam mir ein Gedanke: Wenn aus absolut »Nichts*« nicht »Irgendetwas« werden kann (»Von Nichts kommt Nichts!«) und umgekehrt: Wenn »Etwas« sich nicht in absolut »Nichts« auflösen kann, dann ist der einzige logische Schluss: Alles muss schon immer da gewesen sein und es wird immer alles da sein - in welcher Form auch immer.
Dieser Gedanke war glücklicherweise kompatibel zum Energieerhaltungssatz aus dem Physikunterricht (»Energie kann nicht erzeugt oder vernichtet werden - Energie kann immer nur umgewandelt werden«). Und dank Einsteins berühmter Gleichung E = mc², welche die Äquivalenz von Masse und Energie zum Ausdruck bringt, fand ich meinen Gedanken richtig gut. Mehr noch: Wenn nun die Summe aller Materie, Energie und was auch immer da draußen existierte, ewig war, dann könnte man dieses oder vielleicht Teile davon als »Gott« bezeichnen. Was und wie auch immer Gott war, er war nicht mehr so abwegig, nicht mehr so unmöglich wie zuvor.
Voller innerer Begeisterung teilte ich diese Gedanken meinem Bruder mit, der damit jedoch nichts anfangen konnte. Stattdessen strafte er mich mit einem verächtlichen Blick.
Ohne es mir wirklich bewusst zu werden, war dieser Herbstnachmittag der Tag, an dem ich mich einen Schritt auf Gott zubewegte. Einen sehr kleinen Schritt: Denn meine nun »agnostische Sicht«, die die Existenz Gottes nicht grundsätzlich verneinte, änderte nichts an meinem atheistisch geprägten Denken und meinem Unverständnis für »Religiosität« schlechthin. Gott - vielleicht gibt es ihn ja. Aber bestimmt nicht so, wie diese Christenmenschen glauben!
»Du bist viel zu kopflastig!«, bekam ich einmal von einer gläubigen Mitschülerin zu hören. Aber auf der Schiene des »Gefühls« konnte ich Gott nicht finden. Daran änderten auch die drei weiteren Taizéfahrten nichts. Ebenso wenig mein vierwöchiger Aufenthalt in Taizé während meines Studiums. Andere Menschen mochten in der Lage sein, Gott zu fühlen. Ich konnte es einfach nicht.
In einem Gespräch mit einem Bruder aus Taizé wurden mir Schriften von Blaise Pascal empfohlen, aber leider fand ich keinen Zugang zu deinen Texten. So ein großer Denker und Philosoph war ich wohl doch nicht.
Da ich mittlerweile studierte, waren meine Gesprächspartner in Weltanschauungsfragen nun Kommilitonen, also Mitstudenten. Wie schon in meiner Schulzeit war dabei auch das Thema »Evolutionstheorie« von großer Bedeutung. Schon bald sollte ich eine gläubige Studentin, die zudem Biologie studierte und somit eine ideale Gesprächspartnerin für meine Interessen war, näher kennenlernen.
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* Damit meine ich wirklich »Nichts« - auch kein Quantenvakuum, denn das ist mehr als »Nichts«!
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Die fehlende Antenne - Und wo, bitteschön, ist Gott?
Non-FictionIn diesem Buch schildere ich meinen Glaubensweg - semi-christlich erzogen, dann Atheist, Agnostiker - am Ende Christ (so ein gaaanz schlimmer!). Bitte tut mir einen Gefallen: Lest dieses Buch NICHT, wenn für euch »Glaube« ein rotes Tuch ist. Versuch...