Kapitel 1: Der letzte Tag

17 1 0
                                    


Ich öffnete meine Augen, als mein Wecker mich mit seinem schrillen Alarmton aus dem Schlaf riss. Ich steckte meine Hand in die Luft und griff nach ihm, um ihn auszuschalten. Jedoch stieß ich ihn dabei versehentlich ein wenig und er fiel von meinem Nachttisch herunter und somit auf den Boden. Ich war noch zu müde, um rechtzeitig reagieren zu können und ihn vorher aufzufangen. Er klatschte direkt auf den Korkboden, welcher mein Bett umringte und gab einen gnadenlos lauten Knall von sich. Ich verzog das Gesicht und steckte meinen Kopf unter mein Kissen um auf irgendeine Weise noch einen Moment Ruhe zu bekommen. Jedoch war dies bereits vergebens, denn im nächsten Moment kam auch schon mein Bruder in mein Zimmer gestürmt. Er sprang über die Bettkante auf meinen Rücken und rüttelte mich. Dabei rief er wie jeden Tag, dass ich endlich aufstehen sollte, um nicht zu spät zu kommen, wobei er wusste, dass ich noch mehr als eine Stunde Zeit hatte, um mich auf den Schultag vorzubereiten. Da ich wusste, dass ich nicht kräftig genug war, um ihn von mir zu stoßen, fügte ich mich meinem Schicksal und steckte meine Arme wie ein gefasster Verbrecher in die Höhe und wartete, bis er mich aufstehen lies. Jedoch war er heute anscheinend besonders gut drauf und nutzte diese Gelegenheit, um seine Hände unter meinen Armen zu vergraben und mich auf eine gewalttätige Art zwicken zu wollen. Ich schrie auf und streckte mich. Mit aller Kraft versuchte ich, ihn von mir zu stoßen. Es gelang mir jedoch nur bedingt, da wir nun beide durch meine merkwürdigen Bewegungen vom Bett gefallen waren. Er lag lachend auf mir und fragte, was ein Schwächling wie ich nur gegen ihn ausrichten wollte. Ich hob ruckartig mein Knie an und stieß ihm damit an seine Hüfte, sodass er zur anderen Seite fiel und mich böse anstarrte. „Was soll ein Dummkopf wie du Nikki nur gegen mich ausrichten?", fragte ich bedrohlich. Er lachte wieder und behauptete, dass meine Taktik unfair gewesen wäre, weil er gerade nicht darauf eingestellt war. „Sowas macht einen Kampf nunmal aus. Es geht nicht nur um körperliche Stärke, sondern auch um geistige", erwiderte ich. Er stand auf und verließ langsam das Zimmer. Als er in der Tür stand, drehte er sich noch einmal kurz um, legte seinen Kopf leicht schief und meinte: „Warte nur ab. Beim nächsten Mal bist du tot." Ich antwortete nicht.

Ich räkelte mich auf dem Boden hin und her und schaute aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen brachen bereits durch die Wolken und warfen sich durch das Glas auf mein winterlich helles Gesicht. Ich genoss die Wärme, die meinen Körper in diesem Moment wie eine Welle durchfloss, noch einige Sekunden, bevor ich mich mühsam mit den Armen nach oben drückte und anfing die Sachen, welche ich zum Duschen brauchte, über meine Schulter zu werfen. Ich ging zur Tür und blickte in den verlassenen Flur. Mein Bruder musste bereits unten sein und was meine Mutter machte, war mir in diesem Moment relativ egal, solange sie nicht das Bad blockierte. Mit schnellen Schritten schlich ich den langen Gang entlang und bemühte mich, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Als ich schließlich bei dem Bad ankam, steckte ich zunächst meinen Kopf hinein, um sehen zu können, ob jemand dort war. Glücklicherweise war der Raum leer. Ich ging hinein, schloss die Tür hinter mir und verriegelte sie. Ich stand nicht sonderlich darauf, dass jemand versehentlich die Tür öffnet während ich dusche und mich dann anstarrt. Nikki war das immerhin oft genug passiert. Traurigerweise war ich oftmals diejenige, welche in das Bad stürmte um irgendeinen unwichtigen Gegenstand zu holen.

Ich zog mein überlanges Oberteil, welches ich in letzter Zeit ständig zum Schlafen nutzte, vorsichtig über meinen Kopf. Bevor ich duschte, putzte ich mir noch die Zähne. Ich drehte den Wasserhahn auf und lies das eiskalte Wasser hinausströmen. Ich hob vorsichtig meine Hand und streckte einen Finger aus. Ich führte eine langsame Bewegung in meine Richtung aus und lies das Wasser somit weiter in meine Richtung laufen. Es lief alles perfekt. Nun drehte ich meinen Finger im Kreis und lies das Wasser tanzen. Egal wie oft ich dies tat, ich bekam nie genug davon. Es sah so schön aus, wenn das Wasser in diesen kreisrunden Bewegungen das Waschbecken entlangfloss. Ich führte das Wasser zu meiner Zahnbürste und lies es diese aufheben und in meine Hand geben. Dies gelang mir so gut, dass ich das Gleiche auch mit allen anderen Dingen machte, die ich gerade benötigte. So verstrich einige Zeit und irgendwann konnte ich nicht mehr einschätzen, wie lange ich schon so im Bad stand. Ich entschloss mich, ein wenig schneller zu duschen als sonst, da ich nicht wusste, wie viel Zeit mir noch blieb. Als ich das Wasser einschaltete und es auf meinen Kopf und Körper herunter laufen lies, fühlte sich dies unglaublich beruhigend an. Für mich war Wasser ein Teil meines Körpers und meiner Seele. Da ich es ohne Probleme immer besser beherrschen konnte, fühlte es sich immer sehr vertraut an und war für mich das Normalste der Welt. Ich lies es meinen Finger umspielen und es danach wie einen kleinen Tornado in die Luft steigen. Dies war meine Welt und hier fühlte ich mich wohl. Doch trotzdem fragte ich mich manchmal, ob ich nicht doch lieber die Luft beherrschen würde.

SchattenseelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt