Kapitel 1

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Bedeutungslos. Alles erschien ihr so bedeutungslos.
Ihre Gedanken kreisten nur um diese eine Sache: Wie er den Arm um dieses Mädchen gelegt hatte, wie er sich zu ihr heruntergebeugt und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte und sie damit zum Lachen brachte und dann... dann hatten sie sich geküsst und Rose hatte wegschauen müssen um nicht direkt loszuheulen. Was hatte diese Karla nur, was sie nicht hatte? Warum hatte Thomas sich für sie entschieden? Hatte er nie dasselbe für Rose gefühlt, wie sie für ihn? Dabei war sie sich so sicher gewesen...
Fast wäre Rose gestolpert, als sie schnellen Schrittes die bevölkerten Einkaufsstraßen entlang lief. Die Tränen in ihren Augen ließen sie alles nur noch verschwommen sehen. Sie wollte einfach nur noch hier weg. Warum passierte so etwas auch immer ausgerechnet ihr? War es ihr nicht vergönnt einfach mal glücklich zu sein? 
Schniefend wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und versuchte tief durchzuatmen. Wenn Rose verheult nach Hause käme, würde ihre Mutter nur wieder dumme Fragen stellen und das war das Letzte, was sie jetzt noch brauchte. Während der Busfahrt versuchte sie verzweifelt, sich wieder ein wenig zu sammeln und die Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Thomas Gesicht schwebte immer noch deutlich vor ihrem inneren Auge, als er sich zu Karla heruntergebeugt hatte. Und sein leichtes Lächeln, kurz bevor ihre Lippen sich trafen, tat ihr beinahe körperlich weh. 
Wütend auf sich selbst blinzelte Rose die von neuem aufkommenden Tränen weg, bevor noch jemand im Bus auf die Idee käme, sie zu fragen  was los sei. Warum verliebte sie sich auch immer in die Falschen? Und warum konnte sie Thomas nicht einfach vergessen? Wie ein Buch das man gelesen hatte und von dem man zuerst noch ganz begeistert war. Mit der Zeit jedoch verblassten die Erinnerungen daran jedoch mehr und mehr, bis man sich nicht einmal mehr an den genauen Inhalt erinnern konnte. Aber das funktionierte mit ihm einfach nicht. Sie hatte es ja schon früher versucht. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in der 8. Klasse, als er auf die Schule gewechselt hatte, hatte sie sich sofort verknallt, auch wenn er in den ersten zwei Jahren wahrscheinlich nicht einmal registriert hatte, dass es sie gab. In dieser Zeit hatte sie sich oft gewünscht, sie könnte ihn einfach vergessen. Er war gut aussehend, beliebt und einen Jahrgang über ihr, warum also hätte er sich für sie interessieren sollen. Doch ihn vergessen hatte sie trotzdem nicht können. Jedes Mal, wenn Thomas Rose im Gang zwischen den Stunden oder in den Pausen über den Weg gelaufen war, hatte ihr Herz einen Sprung gemacht und wenn seine strahlend blauen Augen für den Bruchteil einer Sekunde achtlos über ihr Gesicht geschweift waren, hatte sich ein Kribbeln in ihrem ganzen Körper breit gemacht, auch wenn er sie nie wirklich bewusst angesehen hatte. Doch am Ende der 10. Klasse hatte sich das plötzlich schlagartig geändert, nachdem ihre Freundin Kate sie mit zu einer Hausparty eines Freundes genommen hatte. Kate war 20, genauso wie fast alle anderen auf der Party und somit hatte Rose nicht damit gerechnet, überhaupt irgendjemanden von ihrer Schule dort zu treffen. Aber dass ausgerechnet Thomas dort sein würde, damit hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Irgendwann, als die Party sich langsam auflöste und Rose ein wenig verlassen mit einer Flasche Bier im Wohnzimmer saß, kam Thomas zu ihr. Kate hatte sich schon längst mit irgendeinem Typen in ein Zimmer verzogen, obwohl eigentlich ausgemacht gewesen war, dass Rose bei ihr übernachten würde.
Dank des Alkohols war es ihr nicht schwer gefallen, ein Gespräch mit Thomas anzufangen und nachdem sie noch mehr Bier getrunken und geredet hatten, hatte er ihr schließlich angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Erst draußen an der frischen Luft hatte Rose gemerkt, wie betrunken sie eigentlich wirklich war und Thomas schien es nicht anders zu gehen. Für den Weg zu ihr nach Hause brauchten sie beinahe eineinhalb Stunden, was Rose aber reichlich wenig ausmachte. Die ganze Zeit über hatten sie geredet und gelacht und als sie bei ihrem Haus angekommen waren und vor dem Tor zum Vorgarten standen, hatte Thomas Rose auf die Wange geküsst und ihr gesagt, er hoffe, sie bald wieder zu sehen. Immer noch lächelnd, hatte sie ihm solang hinterher geschaut, bis er abgebogen war. Dann hatte sie sich überglücklich dem Tor zugewandt, bis ihr aufgefallen war, dass sie gar nicht nach Hause gehen konnte. Ihren Eltern hatte sie natürlich nichts von der Party gesagt und sie dachten sie würde bei Kate übernachten. Sicher wären sie sehr begeistert gewesen, wenn ihre Tochter mitten in der Nacht angetrunken vor der Haustür stand. Außerdem war das Letzte, auf das sie in diesem Moment Lust gehabt hatte, sich in ihr Bett zu legen und zu schlafen. Sie hatte laufen wollen, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen. Am liebsten hätte sie damals die ganze Welt umarmt. 
Irgendwann hatte Rose dann versucht Kate anzurufen, doch diese war nicht ans Handy gegangen. Die halbe Nacht vor dem Haus sitzen hatte sie jedoch auch nicht gewollt.
Die einzige Person, die ihren verzweifelten Nachrichten - die sie daraufhin an sämtliche Freunde geschickt hatte - geantwortet hatte, war Luka gewesen. Ihn kannte sie schon seit Jahren. Sie hatten sich in einem  Ferienlager noch während der Grundschule kennen gelernt und waren seitdem Brieffreunde gewesen. Damals hatte Luka noch in einer etwas weiter entfernten Stadt gewohnt. Nachdem seine Mutter jedoch eine Anstellung als Ärztin im örtlichen Krankenhaus bekommen hatte, war die ganze Familie umgezogen und Luka wohnte nun nur noch ein paar Straßen von ihr entfernt. Schließlich hatte sie ihn überreden können, sich rauszuschleichen. Sie waren dann zusammen zu ihrem Lieblingsort gegangen, der etwa 20 Minuten von ihrer Wohnsiedlung entfernt war.
Sobald man das bebaute Gebiet verlassen hatte, kam man durch ein kleines Waldstück und über ein paar Feldwege einen Hügel hinauf. Dort oben gab es weit und breit nichts außer einer morschen Bank unter einer alten Eiche, die im Sommer angenehmen Schatten spendete.
Sie hatte ihm dort dann, noch immer leicht angetrunken, von Thomas erzählt und sie waren bis zum Morgengrauen zusammen dort oben gesessen. Luka hatte sich ihre ganze Geschichte angehört und ihr danach gesagt, sie sollte sich nicht so viele Hoffnungen machen. Vielleicht war Thomas einfach nur betrunken gewesen und sie steigerte sich da in etwas rein. Damals hatte Rose nicht auf ihn hören wollen. Sie war sich so sicher gewesen. Hätte sie es doch nur getan, er hatte sie gewarnt. 

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