BLIND

Kapitel 6

"Also erzähl, was gibt's so wichtiges, dass du unbedingt meinen Rat brauchst", fragte Kate, während sie vor dem großen Spiegel, der an der Wand ihres kleinen Wohnzimmers lehnte, stand und sich mit Kajal die Augen umrandete. 
Rose seufzte. Sie saß im Schneidersitz auf dem schmalen bordeauxroten Polstersofa das in der Mitte des kleinen Raumes stand. Allgemein war das Zimmer ziemlich rot und altmodisch gehalten. Kates ganze Wohnung  sah aus als käme sie noch aus einem anderen Jahrhundert. Die riesige Whiskey-Sammlung in einem der mahagonihölzernen Regale trug auch sehr dazu bei. 
Rose fand es immer wieder faszinierend, Kate zu besuchen, es war, als würde man eine andere Welt betreten.  
Kate wirkte auch, aus käme sie aus einer anderen Welt. Sie war 20 und arbeitete in einem winzig kleinen altmodischen Plattenladen in der Innenstadt, wo, ihren eigenen Aussagen zufolge, fast nur Freaks einkaufen gingen. 
Rose war zufällig auf diesen Laden gestoßen, als ihr bei einem Konzert einer - wie sich im Nachhinein herausstellte - ziemlich langweiligen Band von einer kurvigen, kleinen, dunkelhaarigen Frau ein Flyer dafür in die Hand gedrückt worden war, den sie eigentlich nur behalten hatte, weil ihr auf der Rückseite ein 2€- Gutschein von ihrem Lieblingscafe entgegen lächelte.
Und irgenwie war sie dann neugierig geworden und hatte sich mal in den kleinen Laden gewagt, was sich nicht als Fehler herausstellte. Nach drei Stunden, in denen sie sich durch sämtliche Platten gehört hatte - was man dort kostenlos konnte, wahrscheinlich mit der Intuition, dass man sie danach auch kaufte - verließ sie den Laden, zwar ohne Geld ausgegeben zu haben wieder, dafür aber mit einer Einladung von Kate, sie zwei Tage später zu einem wirklich gutem Gig in einer Lokation ganz in der Nähe zu begleiten.
Nach diesem ersten Gig hatte Kate Rose zu noch mehreren mitgenommen und ihr die Barszene ein wenig näher gebracht, obwohl sie damals eigentlich erst 16 war. Mit Kate kam sie überall rein.

Und jetzt wollte sie Kates Rat. Sie hatte ihr bisher nur flüchtig von Thomas erzählt. Der einzige, dem sie alles darüber erzählt hatte, war Luka und sie hatte irgendwie das dumpfe Gefühl, dass er das Thema nicht so besonders gern mit ihr beredete. Er war der Meinung, Thomas wäre nicht der Richtige für sie und sie sollte lieber versuchen, von ihm weg zu kommen. Aber das wollte sie nicht. Jetzt, wo er immer öfter mit ihr redete und sie ihn nicht mehr nur aus der Ferne anhimmeln musste, wollte sie einfach nicht aufgeben, Karla hin oder her.
"Jaa also... äh es gibt da so einen Jungen...", fing sie stockend an zu erklären. 
"Ohh jaa... so fangen die meisten Dramen an," fiel Kate ihr ins Wort, die in der Zwischenzeit zum Eyeliner gegriffen hatte. 
Sie ging nachher noch mit einem Typen aus, den sie vor zwei Wochen in einer Bar kennengelernt hatte. Kate ging oft mit irgendwelchen Männern aus, die Rose Meinung nach alle ziemlich zwielichtig waren, aber so war nun mal Kates Geschmack. Sie war 20, sie konnte machen was sie wollte und sich treffen mit wem sie wollte. Rose mochte sich da lieber nicht einmischen.
"Ich... ähh find ihn schon seit 2 Jahren ganz süß..", fuhr Rose fort und Kate seufzte. "Der scheint's dir ja echt angetan zu haben. Und wo liegt jetzt das Problem?"
"Najaa... ich hatte irgendwie in letzter Zeit das Gefühl er findet mich auch ganz nett..."
"Ganz nett?", fiel Kate ihr ins Wort, "Findet er dich einfach nur ganz nett oder will er was von dir Rose?"
"Ich dachte schon, dass er was von mir wollte..."
"Wollte? Warum denkst du das jetzt nicht mehr?", hakte Kate unbarmherzig nach.
Rose riss gereizt die Hände in die Luft, "Weil ich letzte Woche gesehen hab, wie er eine andere geküsst hat."

Kate, die gerade einen blutroten Lippenstift aufdrehte, hielt einen Moment in der Bewegung inne und starrte scheinbar ins Leere.
Dann schien sie sich jedoch wieder zu fangen. "Dann solltest du ihn vergessen", war ihre knappe Antwort.
Rose stieß frustriert die Luft aus den Lungen. "Dasselbe hat Luka mir auch schon gesagt. Toller Rat."  
Sie hatte wirklich geglaubt, Kate würde sie verstehen. Immerhin hatte sie Erfahrung mit Männern und hatte ihr auch sonst schon ab und an in schwierigen Lagen geholfen. 
"Ja das ist auch der beste Rat den er dir als guter Freund geben konnte. Es ist wirklich besser, du vergisst diesen Kerl, bevor du dich immer und immer wieder von ihm verletzen lässt."
"Aber Kate... ich kann ihn nicht einfach vergessen", murmelte Rose ein wenig leiser. 
Kate, die jetzt fertig war, ihren Lippenstift aufzutragen, presste die Lippen aufeinander um die Farbe gleichmäßig zu verteilen und löste sie dann mit einem Plopp wieder voneinander. Rose war ziemlich neidisch auf Kates Lippen, auch wenn sie sich das nie eingestehen würde. Sie waren voll und perfekt geformt. Dagegen war Rose bei ihren eigenen der Meinung, ihre Oberlippe wär im Vergleich zur unteren zu schmal und allgemein gefiel ihr die Form einfach nicht. 
"Du stehst wohl immer noch sehr auf ihn?", riss Kate, die sich in der Zwischenzeit zu ihr umgedreht und sich an eins der Regale gelehnt hatte, sie aus ihren Gedanken. 
"Hmm, jaa, kann man wohl sagen", gab Rose resigniert zu. 
"Du willst ihn dir also unbedingt zurück erobern, hmm," Kate zog nachdenklich die Nase kraus.
 "Naja, wenn du sagst, du hattest das Gefühl, er wollte auch was von dir, dann musst du ihm vielleicht einfach wieder ein bisschen auf die Sprünge helfen", meinte Kate nach einer Weile und zuckte nachdenklich die Achseln. 
"Und wie soll ich das bitte machen?"
"Ach komm schon Rose. Wie wohl", grinste Kate, "Du musst ihn natürlich eifersüchtig machen, damit ihm wieder klar wird, dass er auf dich steht." 
Rose machte große Augen. An sowas hatte sie überhaupt nicht gedacht. "Meinst du echt, das könnte funktionieren?"
Kate lachte spöttisch auf, "Das funktioniert bei allen Kerlen, glaub mir. Das weckt ihren Jagdinstinkt. Du weißt schon, 'Mein Revier. Ich will der Einzige sein, der hier das Sagen hat.' Also schnapp dir irgendeinen anderen Jungen und mach vor seinen Augen mit dem rum, das sollte reichen, ihn dazu zu bringen, dir wieder seine volle Aufmerksamkeit zu schenken."
Rose grinste, "Danke Kate, du bist die Beste. Jetzt brauch ich nur noch einen anderen Typen." 
"Ach komm, das sollte das kleinste Problem sein. Da findet sich sicher einer", erwiderte Kate mit einer abfälligen Handbewegung. 
"So, jetzt aber raus hier Süße, ich werd gleich abgeholt", scheuchte sie Rose schließlich auf.
"Warte! Ich hab mein Handy auf dem Couchtisch vergessen", rief Rose, als sie schon beinahe an der Tür war und Kate lief die Augen verdrehend zurück um es ihr zu holen. 
"Jetz aber husch husch", grinste sie, als sie Rose das Handy in die Hand drückte und ihr zuzwinkerte. 
Und während sie schon aus der Wohnungstür war und die Treppen nach unten lief hörte sie noch wie Kate ihr hinterher rief, "Vergiss nicht mir zu erzählen, wie deine Eifersuchts-Aktion geklappt hat!"
Grinsend schüttelte sie den Kopf als sie die Haustür aufdrückte. Kate war wirklich unverbesserlich. Rose konnte sich wirklich glücklich schätzen, sie kennen gelernt zu haben. 
Gerade als Rose raus in den noch kühlen Märzabend trat, hielt ein protzig aussehendes Motorrad vor dem Wohnhaus und ein Mann in schwarzer Lederkluft stieg ab. Wahrscheinlich war das Kates Date, schoss es Rose durch den Kopf und sie senkte ihren Blick schnell auf ihr Handy, bevor er noch irgendetwas zu ihr sagte.
Dabei fiel ihr auch auf, dass sie eine neue Nachricht von Luka hatte. 

SOS. Werde Samstag Abend aus dem Haus geekelt. Lust was zu machen?

Rose lächelte. Dank dieser neuen Idee, auf die Kate sie gerade gebracht hatte, um Thomas doch noch zurück zu bekommen, war sie plötzlich viel unternehmungslustiger geworden. Warum also sollte sie an einem Samstag Abend allein zu Hause bleiben, wenn sie auch etwas mit Lukas machen konnte. Vielleicht kannte er ja auch noch den ein oder anderen Jungen, der ihr bei ihrem Plan helfen konnte. 

Klar gern. Um 7 unter der Eiche? 

Eine Minute später kam auch schon Lukas Antwort zurück:

Passt. Ich bring den Alk mit.