Kapitel 5

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Madison zuckte und schlug die Augen auf. Es war noch düster, doch man konnte schon einige helle Streifen am Himmel erkennen. Sie schaute auf den Vorplatz, der auch als Gemeinschaftsplatz bezeichnet wurde, und sah dort einige Indianer, welche mit einem Meißel ein großes Stück Holz bearbeiteten. Madison fühlte sich unwohl hier in der fremden Welt. Gestern war sie hierher gekommen, doch hatte noch kaum einer mit ihr geredet oder ihr jegliche Beachtung geschenkt.
Mutig rappelte Madison sich auf. Sie wusste, dass, wenn sie jetzt nicht sprechen würde, sie niemand weiterhin beachtet hätte.
Madison fasste sich ein Herz und setzte sich aufmerksam auf einen schmutzigen Hocker. Alle Blicke richteten sich auf sie, und Madison merkte, wie dumm ihr Vorhaben war. Keiner würde sie verstehen- das stand fest. Doch einen Versuch war es wert: „Wo ist Jeff!? ” fragte die erwartungsvolle Frau, und kontrollierte dabei jede Betonung.
Doch zu ihrer Enttäuschung erntete sie bloß verdutzte, neugierig dreinschauende Gesichter, und einen Augenblick später waren die Rothäute wieder vollkommen mit ihrer Arbeit beschäftigt. Madison wurde es zu dumm und sie stand auf, um sich ein wenig umzuschauen. Es gab noch viele Indianer, die nicht aufgestanden waren und in ihren Tipis Ruhe hielten. Madison ging einmal um die Tipis herum, konnte jedoch nichts außergewöhnliches entdecken. So nahm sie ihr Heftchen und notierte:

Allein und verlassen,
bei denen, die mich hassen.
Einsam und vergessen,
Angst, nicht zu ermessen.
Verloren im Staub,
Mir wurde geraubt,
Was mir mein Leben einst war.

Madison war nicht wirklich zufrieden mit dem Gedicht, doch zeugte es davon, was grade aus einem ihrem Herz gesprudelt war. Sie grübelte ein wenig, als ihr plötzlich der Bibelvers aus Jesaja 41 Vers 13 einfiel:
"Denn ich bin der Herr, dein Gott, der deine rechte Hand stärket und zu dir spricht, fürchte dich nicht! Ich helfe dir."
Madison stutze. Hatten Jeff und sie nicht jeden Tag mit diesem Bibelvers gestartet, der ihnen so viel Trost und Ermunterung gab?
Madison fühlte sich plötzlich nicht mehr alleine. Diese Erkenntnis hatte sie hier in der Stille gemacht, zwar hatte sie noch ungewisse Angst um Jeff, aber sie war etwas gestillt. Madison dachte an ihren geliebten Jeff. Ob es ihm in diesem Moment genauso gehen würde wie ihr? Vor vier Monaten hatte Madison sich gedacht, dass ihr Leben nicht schöner sein könnte. Doch nun hatte sie Jeff nicht mehr- ihr Leben, ihre Hoffnung; ihr alles wurde ihr genommen.

Da Madison das Gehen jetzt in den letzten Tagen sehr schwer fiel, setzte sie sich vorsichtig auf einen kleinen, aus Holz gefertigten Stuhl, um sich auszuruhen. Sie spürte es, das Baby würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

                                         ***

„Ich nenne dich Carolina, das war die Stadt, in der ich deinen Daddy das letzte mal gesehen habe” eine leise Stimme flüsterte zaghaft diese lieblichen Worte. Es war Madison. Liebevoll strich sie den Bündel in ihrer Hand über den Kopf und gab dem Baby ein Kuss. Es war ihr Baby, Madisons Baby allein. Oh, wie gerne hätte sie das Baby nun ihrem Mann in die Hände gelegt und sie wären überglücklich gewesen. Doch nun bestand die Ankunft des Erdenbürgers bloß aus Tränen und Trauer.
Madison schloss still ihre Augen. Ihre Gedanken schweiften ab, sie stellte sich einen überglücklichen, stolzen Vater mit seiner kleinen Tochter im Arm vor. Leise singt der Vater ein Schlaflied und das Baby in seinem Arm schläft friedlich und sorgenlos. Schnell verwarf Madison diesen Gedanken wieder, sie wollte sich nicht in das wunschlos glückliche Leben hineinsteigern, sonst würde es ihr nur noch schlechter gehen. Oh sie hatte solch unerträgliche Sehnsucht nach ihrem Mann! Kein Mensch auf dieser Welt konnte ihn ersetzten, das war Madison schon vom ersten Augenblick an klar gewesen. Oft stellte sie sich vor, was ihr Jeff in diesem Augenblick vorhatte, oder ob er womöglich sogar auch an sie dachte.
Plötzlich wurde Madison klar, dass Carolina ihren Vater unter diesen Umständen nie kennen lernen würde. Es wurde ihr klar, dass Carolina ein Leben ohne ihren Vater führen müsste, den sie noch nicht einmal gekannt hatte. Madison bekam wieder einmal Tränen in den Augen.
Plötzlich huschte eine junge, brau gebrannte Sioux- Indianerin in das Zelt. Schnell schaute sie sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass auch niemand sie hier reingehen gesehen hatte. Madison erkannte dieses Mädchen, es war das Gesicht der Indianerin, welche sie als erste von den Indianerinnen angesprochen hatte. Diese Frau hatte ein kleines Päckchen in ihrer Hand. Rasch legte sie es neben Madison auf dem Boden, schaute kurz das Baby an, lächelte und verschwand wieder. Ganz überrascht hob Madison das Geschenk vom Boden auf und betrachtete das, was da zu Vorschein kam. Es war ein fein besticktes Kleidchen mit einigen roséfarbenen Blümchen als Verzierung. Madison stieß einen hoch entzückten Schrei aus- so etwas feines hatte sie von einer Fremden; einer "Feindin", nie erwartet.
Sie war jedoch viel zu erschöpft, um noch weiter über das außergewöhnlich hübsche Geschenk nachzudenken.
Babygeschrei riss Madison aus ihrem Alptraum. Wieder einmal waren Jeff und Nadie in ihren Träumen herrumgegeistert. Madison setzte die kleine Carolina auf ihren Schoß und begann zu singen. Draußen war es angenehm still geworden, die anderen Lakota hielten ihren Mittagschlaf. Als Madison so in die Stille hineinsummte, schoss ihr plötzlich eim Gedanke durch den Kopf. Sie würde hier nicht länger bleiben. Sie würde fliehen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 07, 2017 ⏰

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