Kapitel I

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Unter lebhaftem Erzählen und Austauschen verstauten die Frauen den Rest der notwendigen Lebensmittel in ihren voll beladenen Planwagen. Nur eine Weile hielt die flinke Madison Stoner inne und wischte sich mit ihrem staubigen, blasslila Kleiderärmel über die nasse Stirn. Das es gerade heute so unerträglich heiß sein musste!
„Schau mal hier, Madie, was ich vorher in einer meiner alten Schubladen gefunden habe!“, rief plötzlich eine helle Stimme aus einem der benachbarten Wagen. Langsam kletterte Madison aus ihrem heraus und verschwand kurze Zeit später hinter einer grauen, fleckigen Plane, hinter welcher Carry auch sogleich anfing zu erzählen: „Als wir damals Ted Hover am Weiher beweisen wollten, dass wir noch bessere Schatzsucher sind als er und darauf hin diese komischen Knochen aufgespürt haben...“
„Oh Carry, du bewahrst ja wirklich alles auf“ hörte man die beiden Freundinnen drinnen lachen. Madison versuchte, ihre Angst vor den kommenden Jahren zu verbergen.
Es war der Tag, an dem die lang ersehnte Reise losgehen würde, der Tag der in die Geschichte von Yukon Fort eingehen würde. Für einige Familien würde er unvergesslich werden.
Müde und sorgenvoll verpackte Madison den letzten Proviant. In wenigen Minuten würde Jeff kommen und sie hatten die Absicht ein letztes mal zusammen in die Kirche zu gehen. Ein Gottesdienst- gewidmet an die Familien die sich gemeinsam mit Madison und Jeff in dieses gefährliche Abenteuer stürzen würden. Plötzlich war es wieder da, dieses unerträgliche Stechen in der Herz- Gegend. Madison kniff ihre Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, um nicht einen lauten Schrei von sich zu geben. Sie musste sich wieder einmal an Doc-Lewis Worte erinnern:„ Sie dürfen sich wirklich nicht so aufregen, Madame, das ist sehr schlecht für ihr schwaches Herz!“
In letzter Zeit machte sich ihr Herz- Fehler wirklich zu oft und zu stark bemerkbar.
Ein letztes mal schaute Madison aus ihrem Wagen in Richtung der menschenleeren Allee. Da Jeff noch nicht in Sicht war, entschied sie sich dazu, eine Weile auszuruhen. Madison strich eine Falte aus ihrem Kleid und löste ihren Knoten aus dem Haar, um sicher zu gehen, dass sie schon fertig für den Gottesdienst war. Sie streckte sich kurzerhand auf einem Stapel von alten Decken aus, die den Kartoffeln Schutz vor Licht, Wärme und Kälte bieten sollten.
Plötzlich stiegen viele traurige und schöne Erinnerungen in ihr auf. Ein ungewöhnliches Gefühl wurde geweckt, welches Madison nur mit Mühe unterdrücken konnte. Es war Heimweh- Heimweh, obwohl sie noch nicht einmal losgefahren waren.

Von einem lauten Geklapper und Gepolter wurde Madison geweckt. Vom Stand der Sonne konnte sie ablesen, dass es schon sehr spät geworden war. Sie hatte sogar den Gottesdienst verpasst. „Meine Güte, ich bin ja eingeschlafen!“ seufzte sie und ordnete schnell die Decken neu.  Dann strich sie einige Haarsträhnen aus dem Gesicht bevor sie zu Jeff nach vorne auf den Kutschbock kletterte.
Es war Madison peinlich, dass sie den Gottesdienst einfach verschlafen hatte, aber sie sagte es nicht.
Irgendwie spürte Madison, dass Jeff in diesem Augenblick das gleiche fühlte wie sie, denn es fielen nun nur wenige Worte. Es war dieses beklämmte etwas, welches fröhlich und traurig zugleich war, welches vom Wind angeweht wurde und sich überall ausbreitete. Es war die Ungewissheit. Die Ungewissheit vor einem neuen Leben, einer Reise in eine neue Welt, wo die Indianer herrschten.
Bei diesem Gedanken schüttelte Madison sich. Die weißen Einsiedler wussten nicht mit ihnen umzugehen. Man sagte, sie richten bloß Schaden und Leid an. Madison hasste sie!                                                                                  

Die beinahe grellen Strahlen der Morgensonne verhießen einen ungewöhnlich warmen Septembertag. Mühsam wachte Madison nach einem unruhigen, von Alpträumen geplagten Schlaf auf. Ihre Augen glitten durch die vielen Reihen der notdürftigen Schlafstellen. Alles war ruhig.
Zwei Wochen war es nun her, dass der Treck Yukon Fort verlassen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es kaum Zwischenfälle, keiner wurde ernsthaft verletzt. Doch wie es wohl weitergehen würde?
Still fand eine Träne ihre Bahn zu Madisons Kinn. Oh, sie hatte so schreckliches Heimweh! Ihre Eltern und Freunde hatte sie zurückgelassen, dazu kam, dass ihr Haus vor einigen Wochen erst fertig gestellt wurde und sie es nun dort zurücklassen mussten.
Es wurden immer mehr Leute wach, sodass alle nach einem leichten Frühstück ihren Weg fortsetzten konnten.

                                          ***

Eine tief besorgte Stimme erklang aus einem der großen, schmutzigen Tipis.
„Oh Ma, du musst durchhalten!“
Wimmernd klammerte sich die 13- Jährige Nadie an den Arm ihrer blassen Mutter. "Lungenentzündung", hatte der Medizinmann gesagt. „Das kann man nicht so einfach heilen!“
Sanft tupfte Nadie ihrer Mutter die heiße Stirn mit einem nassen, kühlen Tuch ab. Hohes Fieber war die Folge dieser schweren Krankheit. Nadie erhob sich und verließ das Zelt. Viele Indianer liefen auf dem Vorplatz herum, wuschen Kleider und sägten Holz. Sie ging geradeaus auf eine alte, krüppelige Dame zu.
„Es wird immer Schlimmer, sie hat kaum Kraft mehr!” Nadie sprach diese Worte so langsam, dass man die Angst in ihrer Stimme deutlich hören konnte. Schnell stand diese alte Frau von ihrem Stuhl auf und begleitete Nadie in ihr Zelt. Eines stand fest; es musste schnell Hilfe kommen, sonst wäre es für Nadies Mama eindeutig zu spät.

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